Der blinde Fleck des Cynefin-Frameworks

oder warum Komplexität überall ist.

von Timm Richter

David Snowden 2007 hat mit seinem Artikel „A Leader’s Framework for Decision Making“ einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, dass in Organisationen die Auseinandersetzung mit Komplexität zugenommen hat. Das in dem Artikel vorgestellte Cynefin-Framework ist weit verbreitet, insbesondere im Kontext von Agilität. Häufig wird mit ihm davor gewarnt, in komplexen Situationen auf unterkomplexe Lösungen zu setzen. Laut dem Framework gilt es, einfache, komplizierte, komplexe und chaotische Situationen voneinander zu unterscheiden. Die Quintessenz zum Umgang mit Komplexität fasst Snowden sehr schön am Ende des Artikels zusammen:

A deep understanding of context, the ability to embrace complexity and paradox, and a willingness to flexibly change leadership style will be required for leaders who want to make things happen in a time of increasing uncertainty.

David Snowden, HBR 2007
Erläuterung des Frameworks
  • Einfach: klare Ursache-Wirkungs-Beziehungen | es gibt eine richtige Lösung
  • Kompliziert: Ursache-Wirkungs-Beziehungen vorhanden, aber schwieriger zu identifizieren | mehrere richtige Lösungen möglich
  • Komplex: emergente Muster | keine richtigen Lösungen
  • Chaotisch: hohe Turbulenz | keine Zeit zum Nachdenken

Auch wenn Snowden sehr deutlich Führungskräfte, insbesondere das Senior Management, auffordert, Kontroll- und Allmachtsfantasien sowie unbegründete Selbstgewissheit im Umgang mit komplexen Situationen zu meiden – Wasser auf die Mühlen der Fans von Agilität -, so denkt er Komplexität nicht ganz bis zum Ende. Einfache und komplizierte Probleme seien richtig lösbar, komplexe und chaotische werden mit einer anderen Herangehensweise gelöst. Beim Lesen des Textes wird man das Gefühl nicht los, dass man es richtig machen kann, wenn man die Situationen nur korrekt einschätzt und dann entsprechend das Framework anwendet. Nicht umsonst sagt Snowden zu dem Framework:

We have applied the principles of that science [complexity science] to governments and a broad range of industries.

David Snowden, HBR 2007

Manager mit der Hoffnung auf Kontrolle können sich durch den Artikel bestätigt fühlen – sie müssen eben nur lernen, ihr altes Spiel auf einem neuen Niveau zu spielen.

Dabei ist die Lage viel „schlimmer“ als Snowdens Konzeption des Cynefin-Frameworks es suggeriert, in einem viel radikaleren Sinne muss Führung immer ohne sicheres Wissen entscheiden. Die Hoffnung auf Situationen mit eindeutigen Lösungen oder die Möglichkeit, Situationen sicher kontrollieren zu können, ist aus einer systemtheoretischen Perspektive nicht haltbar. Was also ist – wie im Titel angekündigt -, der blinde Fleck?

Nach Snowden finden wir Komplexität in unserer Umwelt, er betrachtet Komplexität als eine Eigenschaft von Objekten, Systemen oder Situationen. Und es gibt seiner Meinung nach die Möglichkeit, dass Objekte, Systeme oder Situationen statt komplex auch einfach, kompliziert oder chaotisch sind. Eine wesentliche Aufgabe von Führungskräften ist es demnach zu erkennen, welchen Komplexitätsgrad ein Objekt, System oder eine Situation hat – um dann entsprechend dem jeweils vorliegenden Komplexitätsgrad je anders zu handeln. Und für einfache Probleme unterstellt Snowden eine eindeutige richtige Lösung, für komplizierte Probleme richtige Lösbarkeit. Man kann „es“ also wissen, wenn man nur gut genug ist.

Es geht nicht um das Erkennen eines objektiv gegebenen Komplexitätsgrades, sondern um die Entscheidung, wieviel Komplexität man auf Basis der eigenen Fähigkeiten ausblenden möchte

Aus einer systemtheoretischen Perspektive ist Komplexität grundsätzlich immer gegeben, also ein Grundtatbestand des Lebens, und erhält seine Relevanz durch die erlebte Undurchschaubarkeit, die aus einem Komplexitätsgefälle entsteht. Etwas genauer ausgeführt: von Komplexität wollen wir immer dann sprechen, wenn in einem System aus relationierten Elementen nicht (mehr) alle Elemente mit allen Elementen verbunden sind, wenn es also Selektionen gibt. Dies passiert vor allem dann, wenn die Anzahl der Elemente zunimmt, denn die Anzahl von Verbindungen explodiert bei vollständiger Relationierung aller Elemente mit allen Elementen (n Elemente bedeuten n! Verbindungen), so dass es aufgrund von Kapazitätsbeschränkungen zu Selektionen kommt. Die größte Komplexität gibt es in der Welt an sich, jedes (Teil)System in der Welt hat eine geringere Komplexität, da es eine geringere Anzahl Elemente und eine geringere Kapazität für Selektionen hat. Keinem System kann es gelingen, sich ein vollständiges Bild der Welt zu machen, also ist jede Abbildung von Welt unvollständig, reduziert, ungenau. Somit kommt es zu einem Komplexitätsgefälle und für ein System ist die Umwelt damit undurchschaubar. Märkte, Kunden, Mitarbeitende, etc, die die relevante Umwelt von Organisationen bilden, sind immer komplexer, also undurchschaubar für die Organisation.

Allen vier Felder des Cynefin-Frameworks liegt – so unser Vorschlag, Komplexität zu Grunde. Sie unterscheiden sich lediglich dadurch, wie ein Beobachter (bzw. in Bezug auf den Artikel: eine Führungskraft) entscheidet, mit dieser Komplexität umzugehen. Der Beobachter entscheidet nämlich, welches Objekt, System oder Situation in den Fokus der Aufmerksamkeit kommt, also von dem Rest (der Umwelt) abgegrenzt wird. Je enger dieser Fokus, desto weniger Komplexität ist im Fokus, desto mehr Komplexität wird in die Umwelt verlagert, also unsichtbar gemacht. Das so abgegrenzte, einfachere Objekt, System bzw. die Situation kann dann zwar leichter bearbeitet werden, aber es entsteht das Risiko, dass die einfache Lösung nicht zum Kontext passt. Die Frage ist immer, ob man den mit der Fokussierung auf einen einfachen Teilaspekt entstandenen Rest ungestraft wegdenken darf. Und genau das muss laufend überprüft werden, deswegen ist auch in vermeintlich einfachen Situationen die Komplexität nicht weg, sie wird nur ausgeblendet. Snowden nennt als Beispiel für einfache Situationen standardisierbare Prozesse – man denke z.B. an die Prüfung von Schadensansprüchen bei Versicherungen. Wenn man hier Kriterien sehr eng definiert, kann man die Prüfung mit Software oder strikten Arbeitsanweisungen automatisieren. Je fixierter dies erfolgt, umso mehr Fälle aus Graubereichen werden möglicherweise falsch bearbeitet und umso weniger Signale kann man aus der Umwelt wahrnehmen, die eine Änderung des Prozesses nahelegen. Für einfache Probleme kann man richtige Lösungen finden, aber das dann entstehende Lösungsproblem lautet: ist diese einfache Lösung in der aktuellen Situation überhaupt angemessen oder relevant. Checklisten z.B. vereinfachen eine Situation extrem, man muss nur noch Häkchen setzen. Aber sind überhaupt die Prämissen und Rahmenbedingungen erfüllt, die die Anwendung der vereinfachenden Checkliste rechtfertigen? Oder anders gesagt: es bleibt komplex zu entscheiden, wann welche einfache Lösung passend ist. Dass eine einfache Lösung so einfach nicht ist, erkennt auch Snowden an, wenn er die Risiken von einfachen Lösungen benennt: eine zu starke Vereinfachung, Gewohnheitsdenken und Selbstgefälligkeit. Dies sind alles Signale, dass bei der Entscheidung zur Bearbeitung von einfachen Teilaspekten andere wesentliche komplexe Teilaspekte ausgeblendet wurden.

Für eine komplizierte Situation nennt Snowden als Beispiel einen Ferrari, den Ingenieure:innen, also Experten:innen, korrekt zerlegen und wieder zusammenbauen können. Der reduzierte Fokus ermöglicht richtige Lösungen, aber man hat sich auch hier entschieden, die Komplexität in die Umwelt zu verlagern, also auszublenden. Ein Auto wie ein Ferrari wird dazu gebaut, um z.B. Kunden zu gefallen oder Rennen in der Formel 1 zu gewinnen. Inkludiert man diese Rahmenparameter, die höchst relevant sind, in das (technische) Designproblem, wird es sofort komplex. Wer mit einer „technischen“ Spezifikation ein Problem so reduziert, dass es „nur“ noch kompliziert ist, geht wieder das Risiko ein, dass die gefundene Lösung nicht passt, da die Spezifikation die Umweltkomplexität unangemessen reduziert hat. Oder ein anderes Beispiel: natürlich können Steuerberater sehr eng abgegrenzte steuerliche Fachfragen beantworten und komplizierte Steuererklärungen für Mandanten erstellen. Aber in dem Augenblick, wo unsichere Rechtsprechung, interpretierbare Ausgangslagen oder Sicherheitsbedürfnisse des Mandanten mit ins Spiel kommen, wird eine Situation komplex. Als Hindernis bei der Reduzierung von Komplexität auf komplizierte Teilaspekte nennt Snowden die „Analysis Paralysis“, die er auf das Gewohnheitsdenken der Beteiligten zurückführt. Eine andere Erklärung wäre die Hypothese, dass die Beteiligten nach richtigen Lösungen suchen, die es in komplexen Situationen aber gar nicht geben kann. Das angebliche Gewohnheitsdenken macht sichtbar, dass die komplexen, nicht unter einen Hut zu bringenden Anforderungen bei Reduktion auf komplizierte Teilaspekte zu pragmatischen Paradoxien führen. 

Mit dieser Nicht-Lösbarkeit und damit auch Undurchschaubarkeit ist immer zu rechnen. Niklas Luhmann weist darauf hin, dass sogar in technischen Systemen, die streng deterministisch aus wenn-dann-Regeln gebaut sind, Undurchschaubarkeit entsteht, wenn bei zu vielen Regeln nicht mehr (schnell genug) überblickt wird, wie die Regeln zusammenspielen und welche wann wie greift.

Obwohl Technik eine feste Kopplung von Kausalfaktoren vorsieht, wird das System (für sich selbst) intransparent, da nicht vorausgesehen werden kann, in welchem Zeitpunkt welche Faktoren blockiert bzw. freigegeben sind. Höchste Präzision im Detail verhindert nicht, sondern begünstigt gerade Unprognostizierbarkeiten. Es handelt sich um ein (unerwartetes) Umschlagen von determinierten Abläufen in Entscheidungslagen unter Bedingungen der Intransparenz. 

Luhmann in „Die Kontrolle von Intransparenz“, 1998

Dies ist ein typisches Problem, wenn Experten:innen die  prinzipielle Unsicherheit in Komplexität durch Regeln und alle möglichen Ausnahmen dieser Regeln zu fassen versuchen und damit paradoxerweise Verunsicherung und Abkürzungen wahrscheinlich machen.

Was man an den oben genannten Beispielen darüber hinaus sehen kann: das Maß an Komplexität bzw. der Undurchschaubarkeit findet sich nicht in dem Objekt, dem System, der Situation, sondern im Komplexitätsgefälle zwischen Beobachter (mit seiner beschränkten Verarbeitungskapazität) und dem Beobachteten. Was für den einen Beobachter undurchschaubar ist, ist für andere kompliziert oder sogar einfach – man denke z.B. an eine Viertklässlerin, einen Abiturienten oder eine Matheprofessorin, die die Ableitung einer Funktion errechnen sollen. Genau das ist der Grund dafür, warum man Expert:innen einbindet, um die Verarbeitungskapazität (in Grenzen) zu erhöhen.

Das Cynefin-Framework sollte also nicht als Kategorisierung von Situationen nach ihrer inhärenten „objektiven“ Komplexität verstanden werden, sondern es zeigt auf, wie unterschiedlich man sich entscheiden kann, mit der immer vorhandenen Komplexität umzugehen. Wo man sehr feste kausale Kopplungen oder stabile Verhältnisse vermutet, dort kann man – mehr oder weniger kompliziert – technische Lösungen implementieren. Das Komplexitätsmanagement in diesen Situationen verschiebt sich dann auf die Aufgabe, dass man die gewählten Technisierungen fortlaufend auf Angemessenheit überprüft. Die von Snowden für Komplexitätsbearbeitung genannte Aufgabe Sondieren ist auch hier notwendig, allerdings bei der Beobachtung der Passung zwischen einfacher/komplizierter Lösung und ihrer relevanten Umwelt, in der sie helfen soll. 

In allen anderen Fällen – der Entscheidung für eine komplexe oder chaotische Situationsbearbeitung – wird die Rahmung so weit gezogen, dass das Sondieren sich auf das Objekt, das beobachtete System, die Situation direkt bezieht. Der Unterschied der beiden Felder komplex und chaotisch im Cynefin-Framework ist bei genauer Betrachtung nur ein zeitlicher. Snowden schreibt, dass in chaotischen Zuständen der Handlungsdruck so groß ist, dass ein (gemeinschaftliches) Sondieren nicht möglich ist, sondern schnell gehandelt werden muss – act statt probe. Das ändert nichts an der Tatsache, dass in beiden Fällen Undurchschaubarkeit vorliegt.

Führungskräfte sollten also nicht versuchen herauszufinden, ob ihre Situation einfach, kompliziert, komplex oder chaotisch ist, sondern sie müssen immer wieder entscheiden, ob sie in gegebenen Situationen, die stets komplex sind, Teilaspekte so isolieren können, dass diese auf einfache bzw. komplizierte Weise bearbeitet werden können – dabei immer auf Angemessenheit achtend -, oder ob sie sondierend in der Situation handeln müssen. Im letzten Fall gilt es im Blick zu haben, wieviel exploratives Öffnen möglich und wieviel Schließen (aufgrund von Zeitdruck) nötig ist. 

Und bei der Entscheidung für eine Bearbeitungsweise ist nicht nur die externe Komplexität relevant, sondern das Komplexitätsgefälle zwischen Beobachter und dem Beobachtungsgegenstand. Daher ist es geboten, nicht nur nach außen zu schauen, sondern immer auch sich selbst mit dem eigenen vermuteten Vermögen zur Komplexitätsreduktion mitzudenken.