Agilität hat 20 Jahre nach dem Agilen Manifest den Mainstream erreicht. Agile Transformation ist in aller Munde – und ein ungeschützter Begriff. Dies hat zur Folge, dass seine Bedeutung immer unschärfer wird. Er steht heute vor allem für Sehnsüchte und Bestrebungen, das eigene Unternehmen irgendwie anders, moderner, besser zu organisieren, um in bewegten VUCA-Zeiten erfolgreich zu überleben.
Manche Verfechter von agilen Konzepten bedauern diese Beliebigkeit des Begriffes nach dem Motto: Agilität ist auch nicht mehr das, was es einmal war. Andere sprechen davon, dass sich die hohen Erwartungen in Agilität nicht erfüllt haben und werten es ab als eine weitere Modeerscheinung unter vielen.
In jedem Falle ringen vielen Führungskräfte und Berater mit der Frage, wie man mit Agilität umgehen sollte und was eine agile Transformation von Unternehmen denn nun genau bedeutet.
Der erste und wichtigste Schritt zum Finden einer Antwort ist es, eine relevantere Frage zu stellen. Es geht ja gar nicht darum zu verstehen, wie eine agile Transformation aussehen sollte; sondern zu schauen, welche agilen Ideen und Konzepte helfen können, die eigene Organisation erfolgreicher zu machen. Durch diesen Perspektivenwechsel gewinnt man eine wesentlich größere Handlungsfreiheit, da man sagt: wir schauen uns Agilität an und übernehmen das, was für uns funktioniert.
Dass der Begriff Agilität sehr unbestimmt ist, ist dabei kein Problem, sondern eine Chance! Das schafft nämlich die Möglichkeit, die positive Kraft des Begriffs Agilität zu nutzen und mit den eigenen notwendigen Veränderungsvorhaben (= agile Anpassung an veränderte Situationen) inhaltlich aufzuladen. So entsteht dann ein spezifischer „[hier den Namen Ihres Unternehmens einsetzen] way of agility“. So betrachtet ist Agilität ein rhetorisches Mittel, die Aufmerksamkeit der Organisation auf erfolgsrelevante Überlebensfragen zu lenken.
Aber hat Agilität denn nun überhaupt Ideen und Konzepte zu bieten, die sich lohnen zu übernehmen? Dass sich viele Unternehmen in den letzten Jahren mit Agilität beschäftigt haben, lässt vermuten, dass Agilität tatsächlich einige nützliche Konzepte und Ideen im Köcher hat. Ich sehe vor allem drei Bereiche als Kern, bei denen Agilität für grundlegende Veränderungen von Organisationen (=Transformation) gute Impulse gibt: (1) der Umgang mit Nicht-Wissen, (2) die Rolle von interdisziplinären Teams und (3) der Blick nach außen. Diese Impulse entfalten dann ihre Wirkung, wenn sie (systemtheoretische) Erkenntnisse über das Funktionieren von Organisationen berücksichtigen und somit eine naive, unreflektierte Umsetzung von agilen Konzepten nach Kochbuch vermeiden.
Umgang mit Nicht-Wissen
In Organisationen herrscht der Wunsch vor, die Zukunft „im Griff zu haben“ und Überraschungen zu vermeiden. Deswegen wird geplant. Dabei ist der vorherrschende Zeithorizont mittelfristig, nämlich eine Jahresplanung, ergänzt um die Quartalssicht und in vielen Fällen Mehrjahrespläne.
Wahrscheinlich sind solche Pläne auch früher oft genug nicht aufgegangen, aber der Blick auf Planung hat sich verändert. Immer häufiger wird gerufen: das funktioniert ja gar nicht, der Kaiser ist nackt!
In der agilen Denkweise akzeptiert man die Erkenntnis, dass dass die Zukunft ungewiss ist, und macht deswegen viele iterative Experimente. D.h. man ist viel kurzfristiger orientiert, entwickelt Hypothesen anstatt Pläne und testet diese möglichst schnell. In agilen Kontexten wird also die Ausgangsprämisse von Wissen (und deswegen können wir planen) auf Nicht-Wissen umstellt und das Handeln entsprechend anpasst.
Ein naives Verständnis von Agilität bleibt bei dieser Kurzfristigkeit stehen und weigert sich, langfristig bindende Entscheidungen zu treffen. Reine Kurzfristigkeit ohne langfristig orientierte Rahmung birgt aber das Risiko, dass man sich mit inkrementellen Iterationen im Wald verliert. Den Teams fehlt dann eine Orientierung, an der sie ihre Arbeit ausrichten können. Hier hilft ein Zukunftsbild, dass hinreichend scharf konturiert ist, um entscheidungsleitend zu wirken, und ausreichend viele unscharfe und auch weiße Stellen hat, damit sich möglichst viele Beteiligte mit unterschiedlichen Vorstellungen mit dem Zukunftsbild identifizieren und auch einbringen können. Purpose, Mission, Vision oder ähnliches für Teams/Organisationen können das leisten. Es ist kein Zufall, dass sich diese Konzepte zur Zeit einer hohen Beliebtheit erfreuen. Allen diesen Ansätzen ist gemein, dass die Langfristigkeit mit Abstraktheit „ermöglicht“ wird.
Darüber hinaus gibt es Fragen, die mit iterativen Experimenten gar nicht beantworten werden können, da am Anfang große Investitionen notwendig sind und der Zeitraum für Erkenntnisgewinn sehr lang ist. In der Start-up Szene wird viel Geld in Unternehmen investiert, von denen man nicht weiß, ob sie erfolgreich sein werden und meistens auch nicht sind. Bei vielen großen, richtungsweisenden Entscheidungen (z.B.: wieviel Produktionskapazitäten werden jetzt für Produkte im Rahmen der Corona-Krise aufgebaut, ist die Batterie oder Wasserstoff das bessere Medium zur Energiespeicherung in Autos, mit wem kooperieren wir) ist es nicht möglich, iterativ Lösungen zu finden. Und viele große erfolgreiche Digitalunternehmen (Amazon, Facebook, Microsoft, Apple) wurden oder werden von Managern geführt, die für große und hochriskante Richtungsentscheidungen gesorgt haben.
Um Agilität erfolgreich zu machen, muss man also eine gute Mischung aus mehr kurzfristigen Experimenten und wenigen, bewusst getroffenen langfristigen Richtungsentscheidungen finden.
Rolle von interdisziplinären Teams
In klassischen Organisationen ist das wesentliche Strukturierungsprinzip eine Hierarchie von funktionalen Gruppen. Die dadurch konzentrierte Expertise in Fachabteilungen hat das Risiko, dass Silos mit langen Entscheidungswegen entstehen. Mit der Einführung von Projekten, die Projektmitglieder aus unterschiedlichen Fachbereichen haben, wurde für ausgewählte, zeitlich begrenzte Aufgaben bereits mehr Durchlässigkeit organisiert. Im agilen Kontext wird diese Entwicklung noch einmal verstärkt, indem eine Organisation nach Projekten auf Dauer gestellt wird. Feste Teams werden interdisziplinär besetzt und haben eine kontinuierliche Aufgabe, die sie aufgrund ihrer Interdisziplinarität recht eigenständig bearbeiten können. Die grundsätzliche Spannung zwischen einer (intern orientierten) Funktionslogik und einer (extern orientierten) Geschäftsbereichslogik bleibt bestehen, sie wird nur ins Team verlagert. Die Matrix, die früher über hierarchische Entscheidungswege zwischen verschiedenen funktionalen Abteilungen abgebildet wurde, lebt nun im Team. Die Bündelung aller für die Aufgabenbewältigung notwendigen Expertise ist die Voraussetzung dafür, dass die Mehrzahl der Aufgaben eigenständig im Team erledigt werden können.
Die Ausrichtung der Organisation an interdisziplinären Teams verschiebt die Entscheidung von Sachfragen stärker in die Teams. Das agile Motto dafür lautet: mit weniger Hierarchie Entscheidungen dort treffen, wo die Expertise vorhanden ist. Der blinde Fleck einer naiven agilen Sichtweise ist die Erkenntnis, dass Teams nicht im luftleeren Raum handeln, sondern in eine Organisation eingebettet sind. Organisational gibt es mit Blick auf Teams mindestens drei Aufgaben, deren Erfüllung den Erfolg von interdisziplinären, agilen Teams wahrscheinlicher macht: (1) die Festlegung, welche interdisziplinären Teams überhaupt geschaffen werden, (2) der kontinuierliche Dialog mit Teams, woran man den Erfolg der jeweiligen Teams erkennt und (3) die Sicherstellung, dass Konflikte zwischen Teams nicht zu Blockaden führen. Oder anders gesagt: Teams müssen durch Führung in einen organisationalen Kontext eingebunden werden.
Blick nach außen
Organisationen haben die natürliche Tendenz, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Es bedarf der kontinuierlichen Anstrengung, immer wieder den Blick nach außen zu werfen und die relevanten Umwelten der Organisation, ihre Stakeholder, in den Blick zu bekommen. Die Idee von Agilität bringt vor allem zwei wichtige externe Gruppen (wieder) in den Fokus der Aufmerksamkeit
Zum einen erinnert uns die agile Vorgehensweise daran, Kunden und deren Bedürfnisse in den Mittelpunkt des Handelns zu stellen. Wer agil arbeitet, muss seine Arbeit immer mit dem Kundennutzen legitimieren. Dies stellt natürlich noch nicht sicher, dass dies wirklich passiert, aber es erhöht die Wahrscheinlichkeit und lenkt den Fokus der Aufmerksamkeit auf diesen zentralen Aspekt.
Zum anderen wird in agilen Kontexten gefordert, dass auf die Bedürfnisse der Mitarbeiter:innen geachtet wird. Im – von Softwarentwicklern entworfenen – agilen Manifest war dies durch ein intrinsisches Interesse am Wohlergehen der Programmier:innen motiviert. In heutigen Organisationskontexten fällt diese Idee vor allem deswegen auf fruchtbaren Boden, da Wissensarbeiter:innen für den Unternehmenserfolg immer wichtiger werden. Deren Arbeit kann nicht mehr so direkt gesteuert werden, wie es in klassischen Industrieprozessen der Fall ist. Organisationen erkennen zunehmend, dass man für eine gute Produktivität Sinn, Autonomie, Herausforderungen und Sicherheit anbieten muss. Und man fällt bei der Arbeitgeberattraktivität zurück, wenn es nicht gelingt, eine Organisationskultur zu haben, in der sich die Wissensarbeiter:innen wohlfühlen.
Problematisch wird es, wenn bei diesem Fokus auf Kunden und Mitarbeiter:innen die Eigenlogik der Organisationen vergessen wird.
Beim Kundenfokus: es gibt ja nicht „den“ Kunden, der „objektiv“ sagt, was er möchte. Alle Annahmen in Organisationen über Kunden werden von der Organisation und ihren Einheiten geschaffen. Dabei haben unterschiedliche Teams und Abteilungen unterschiedliche Informationen und Perspektiven. Die Wahrheit existiert nicht, es muss um Interpretationen gerungen werden. Auch gibt es organisationale Überlebensanforderungen, im Wesentlichen eine ausreichende Profitabilität, die natürlich auch mitberücksichtigt werden müssen. Es wäre fahrlässig, dies auszublenden. Was also Kundennutzen konkret bedeutet, muss in Organisationen immer wieder ausgehandelt werden.
Bei Fokus auf Mitarbeiter:innen: aus Sicht des Unternehmens erfüllen Mitarbeiter:innen Rollen. Der Erfolg von Organisationen liegt darin begründet, dass man durch Rollen von der Individualität von Mitarbeiter:innen absehen kann und man als Organisation nicht von einzelnen Mitarbeiter:inenn abhängig wird, d.h. Mitarbeiter:innen austauschbar hält. Damit hat man immer einen latenten Konflikt zwischen Rollenanforderung und den Bedürfnissen der Mitarbeiter:innen, den man kontinuierlich ausbalancieren muss.
Die Agilität bietet Konzepte und Ideen, die in die heutige Zeit passen und den Erfolg von Organisationen wahrscheinlicher machen können. Um Agilität für notwendige Transformationen gut zu nutzen, sind zwei Prinzipien hilfreich: die konsequente Orientierung an der Frage, was die Organisation braucht, anstatt der Frage, was Agilität ist. Und eine ausreichende Souveränität und Kompetenz, agile Konzepte mit dem Verständnis um ihre Wirksamkeiten an eigene Bedürfnisse anzupassen anstatt sie wie ein Kochrezept blind anzuwenden.
Timm Richter