von Torsten Groth
Nach meiner Schulzeit habe ich meinen Zivildienst in einem Altenpflegeheim in Bremerhaven geleistet. Jung und unerfahren, wie ich es war, wurde mir Schwester Hildegard zugeteilt, um mich die erste Woche über einzuarbeiten in die Grundkompetenzen der Pflege. Schwester Hildegard, das war schnell zu erkennen, war eine Dame vom alten Schlag. Sie stand kurz vor ihrer Rente und bestand darauf, als „Schwester“ angesprochen und auch gesiezt zu werden, während alle weiteren Pflegekräfte mir gleich zu Dienstbeginn das „Du“ angeboten hatten. Na, das fing ja gut an … – Erst rückblickend wurde mir deutlich, dass ich nicht nur etwas über die Pflege lernen konnte von Schwester Hildegard, sondern insgesamt etwas sichtbar wurde, was auch heute noch, gut 30 Jahre später in Organisationen hoch relevant ist, sofern man es für relevant hält.
Wer kann sich noch erinnern, es gab eine Zeit, da standen alle männlichen Schulabgänger vor der Wahl, verpflichtend einen Wehrdienst oder einen Zivildienst abzuleisten. Und egal, wie man sich entschied, man hatte die Chance, ganz besondere Organisationen kennenzulernen. Doch dazu später mehr, denn zunächst lernte ich besagte Schwester Hildegard kennen – und sie mich. Nachdem wir unsere offenkundige, gegenseitige Fremdheit besiegt hatten, trat hinter ihrem barschen Befehlston (den ich eigentlich – Stichwort „Kasernenton“ – vermeiden wollte mit meiner Wehrdienstverweigerung) doch eine andere Seite von ihr hervor. Schwester Hildegard entwickelte mit jedem Tag mehr Freude an der Weitergabe ihres großen Wissensschatzes als Altenpflegerin.
Schon recht bald konnte ich dabei ein Muster erkennen, das sich in der Schilderung all ihrer Tätigkeiten wiederholte. Sie begann jeden Arbeitsschritt mit einer recht ausführlichen Schilderung all dessen, was man jetzt eigentlich alles tun müsse, wenn man alle Vorgaben erfüllen wollte: Eigentlich müssten wir für schwergewichtigere, bettlägerige Bewohner (damals gab es noch keine Bewohner:innen) einen Lifter benutzen …, aber das Umlagern ginge auch viel schneller mit Muskelkraft und einem gemeinsamen Ruck. Eigentlich dürfen spezielle Wundversorgungen nur von examinierten Pfleger:innen durchgeführt werden …, aber dafür die eine, einzige Fachkraft pro Schicht jetzt extra anzupiepen und aus ihrer Arbeitsroutine zu reißen… und überhaupt, sie kann es mindestens genauso gut. Eigentlich müssten wir bei der morgendlichen Wäsche auch das Wasser und die Waschlappen mehrfach wechseln …, aber wenn man – Obacht (!), die Reihenfolge beachtet, welche Körperteile zuerst, und welche zuletzt, ginge es auch mit weniger zeitaufwändigem Wasserwechsel ( … ich erspare Details, kann aber bestätigen, dass alle Phantasien, die jetzt aufkommen, richtig sind). – Nach diesem „Eigentlich …, aber … – Muster“ lief es Stunde um Stunde, Tag um Tag, die ganze Woche über.
Ein weiterer Aspekt darf in der Betrachtung des Musters nicht untergehen: Gegen Ende jeder Schicht wurden Akten geführt, in denen haarklein das dokumentiert wurde, was man eigentlich hätte tun sollen, aber nicht unbedingt getan hat. Und, nur dass man mich nicht falsch versteht, Schwester Hildegard hat nach allem, was ich rückblickend sagen kann, eine tolle Pflege geleistet. Es wurde nicht gepfuscht, alle Bewohner:innen waren gut versorgt, freuten sich, sobald sie ins Zimmer trat, und neben der Basispflege blieb noch Zeit für einen Plausch oder für weitere Zuwendungen … .
In der Zeit des Zivildienstes war mir nicht bewusst, dass diese Erlebnisse mehr als lehrreiche Zeiten mit einer erfahrenen Altenpflegerin waren. Nach Schulbesuch und Ferienjobs war der Zivildienst im Altenpflegeheim mein erster intensiver Kontakt mit einer „richtigen“ Organisation. Selbstverständlich konnte ich in den Folgemonaten noch vieles lernen über die Pflege, über Sterben und Tod, über Kollegialität und Konkurrenz in Teams und über mich, aber diese erste Woche blieb mir immer besonders in Erinnerung. Was hinter dem Erklär- und Handlungsmuster, das Schwester Hildegard zeigte, alles stecken könnte, und was das alles mit widersprüchlichen Anforderungen an eine Organisation zu haben könnte, das ist mir erst später, im anschließenden Studium klar geworden. Zuvor, im Kreis der Zivildienstleistenden, war Schwester Hildegard, die auch noch recht klein und beleibt – für uns folglich „hutzelig“- war, eher Gegenstand von wenig wertschätzenden Witzeleien, als dass wir anerkennen konnten, was sie gemeinsam mit dem gesamten Pflegeteam geleistet hat.1
Im Verlauf meines Soziologie-Studiums in Oldenburg konnte ich diese erste Organisationswoche reflektieren und erkennen, dass es eine Woche in einer Organisation und nicht nur mit Menschen war. In Einführungskursen zur Organisationstheorie lernten wir die Relevanz der Unterscheidung von „formal“ und „informal“, lernten also, dass es lohnt, immer zwei Seiten einer Organisation zu betrachten. Bilder eines doppelten Öltanks kamen mir in den Sinn. – Bin ich der Einzige oder können sich noch andere daran erinnern, früher standen zu Werbezwecken oft Wagen mit gelben Öltanks herum, auf denen geschrieben stand: „Ich bin zwei Tanks“. Dies hieß für mich übersetzt, es gibt die formale, die offizielle Seite einer Organisation, und davon abweichend ist auch eine informale Seite zu beachten, auf der die Mitarbeiter:innen eben abweichend von den Vorschriften agierten. Hiernach war mir klar, was ich erlebt hatte: Recht grob noch, aber brauchbar, konnte ich das Agieren von Schwester Hildegard auf die nicht-formale Seite einer Organisation schieben, übrigens mit einer nicht so positiven Bewertung ihres Handelns.
Diese frühe Zwei-Seiten-Sicht auf Organisationen hielt sich bei mir recht lange. Sie änderte sich über Zeit ein erstes Mal mit der Lektüre von Nils Brunssons Arbeiten zu „Hypocrisy“ (1989), auf die mich André Kieserling brachte während eines Gastsemesters an der Uni Bielefeld. Scheinheiligkeit schien nun der passendere Interpretationsrahmen. Mit der dazugehörigen Unterscheidung von „talk“ und „action“ war das Verhalten von Schwester Hildegard anders erklärbar. Im besagten Muster zeigt sich also weniger eine abweichende Informalität, sondern vielmehr die relevante „Action“-Seite, die Seite, wie es wirklich zugeht in der Pflege. Und das, was Schwester Hildegard mir als das „Eigentliche“ erzählte, na klar, das ist die „Talk“-Seite, das ist das, was in den Akten notiert wird, das ist das, was extern verlautbart wird, selbst wenn alle wissen, dass es so nicht praktiziert wird. „Talk“ und „Action“ klingt im Prinzip recht ähnlich wie die Unterscheidung von formal und informal, doch die Bewertung ändert sich. Brunsson verweist auf die Funktionalität der Scheinheiligkeit; mit scheinheiligem Agieren sichert sich die Organisation in vielen Fällen ihre Existenz. Im Schwester Hildegard-Muster zeigt sich also eine Abweichung, für die es gute Gründe gibt.2
Eine weitere, dritte Wendung kommt seit Kenntnis und Vertiefung einer Systemtheorie des Organisierens ins Spiel (vgl. Luhmann 2000). Diese Sicht auf Organisationen war schon zum Ende meines Studiums im Hauptfokus, aber erst in der später folgenden, lehrreichen Zusammenarbeit mit Rudi Wimmer und Fritz B. Simon konnte ich am Beispiel Familienunternehmern erleben, wie praxisrelevant diese Sicht ist für Forschung und Beratung (vgl. Simon, Wimmer, Groth 2017). Unterlegt man, basierend auf der Idee, dass Organisationen immerzu widersprüchliche Anforderungen intern prozessieren müssen, das Schwester-Hildegard-Muster mit einer Paradoxietheorie (vgl. Simon 2010), zeigt sich der Versuch, zwei Anforderungen zu erfüllen, die sich situativ gegenseitig ausschließen. Es zeigt sich eine „Lösung“ in der Frage: Wie kann es gelingen, die rechtlichen Vorschriften an „richtiger“ Pflege und auch Dokumentation zu erfüllen und gleichzeitig eine „richtige“ Pflege zu praktizieren, die den Bedarfen der Bewohner:innen nach angemessener Versorgung und Zuwendung gerecht wird.3
Schon früh hatte Gregory Bateson (1985) beobachtet, dass Familienmitglieder in Situationen, die sie in einen „double-bind“ bringen (oder die sie als ein „double-bind“ erleben), „krank“ oder „kreativ“ werden. Diese Sicht, noch sehr fokussiert auf vorhandene oder nicht vorhandene metakommunikative Fähigkeiten von Einzelnen, lässt sich auch auf Teams und Organisationen übertragen. Übergeordnet stellt sich die Frage, wie Erwartungsstrukturen in Projekten, Teams oder auch Organisationen formuliert werden, dass individuell wie kollektiv „paradoxiebewusst“ agiert werden kann. Idealerweise ermöglicht dies einen kreativeren oder auch „spielerischeren“ Umgang mit Situationen, in denen sich die Beteiligten zunächst in einer Zwickmühle sehen. Vor diesem Hintergrund ist es kein Zufall, dass ein Großteil aller Beratungsprojekte bei Simon Weber Friends auf die Gestaltung von Organisationsdesigns, Entscheidungsprämissen und Führungsverständnisse fokussiert ist, in denen Balanceakte zwischen Exploration und Exploitation, Formalität und Informalität oder auch zwischen Regelanwendung und -abweichungen möglich werden. Ähnlich sind Führungs- und Beraterkurse gestrickt. In diesen werden u.a. Beobachtungsfähigkeiten geschult, eine Vielzahl beobachtbarer Praktiken, die dem „Schwester-Hildegard-Muster“ ähneln oder die vermeintlich irrational erscheinen, bis hin zu kaum erklärbaren Konfliktdynamiken als mögliche „Lösungen“ paradoxer Anforderungen zu reflektieren (was im Übrigen nicht bedeutet, dass eine Paradoxie immer die passende Erklärung ist).
Bis auf weiteres sehe ich, bzw. wir von swf in der grundlegenden Paradoxiesicht auf Organisationen das größte Potenzial für Führungs- und Beratungsansätze. Aber wer weiß, wie sich das „Schwester-Hildegard-Muster“ noch brauchbar anders darstellt in Zukunft. In einem Interview mit James G. March fragte ich ihn, wie er “Organisation” definiere – eine eher zum lockeren Einstieg formulierte Frage, die wir im Zuge eines Buchprojekts allen Interviewpartner:innen stellten. James March war der Einzige, der sich zunächst weigerte Organisation zu definieren, und erst auf Nachfrage antwortete er widerwillig: „Ich würde sagen, eine Organisation ist immer das, wofür eine Organisationstheorie sie hält“ (March 2001, S. 21). Darum geht es. Zum professionellen Einsatz von systemisch-konstruktivistischen Theorien in Beratung und Führung gehört der autologische Schluss, dass die verwendete Theorie erst den Gegenstand erzeugt, den man vor sich hat. Die Theorie schafft einen Erklärungs- und Bewertungskontext für alles Folgende; sie ist nur Konstruktion, aber sie schafft Wirklichkeiten in Form von Erklärungen und Bewertungen mit realen Folgen für die Praxis. – Manchmal hat man das Glück und die Muße, nach mehr als drei Jahrzehnten zurückzuschauen, oft jedoch erfordert es der Alltag, diese Reflexion im Moment des Handelns mitzuvollziehen.
Literatur
Bateson, G. (1985): Ökologie des Geistes. Suhrkamp: Frankfurt a.M.
Brunsson, N. (1989): The Organization of Hypocrisy: Talk, Decisions and Actions in Organizations. John Wiley & Sons: Hoboken.
Kühl, S. (2011): Organisation. Eine ganz kurze Einführung. Campus: Frankfurt a.M.
Luhmann, N. (2000): Organisation und Entscheidung. Westdt. Verlag: Wiesbaden.
March, J.G. (2001): „Wenn Organisationen wirklich intelligent werden wollen, müssen, sie lernen, sich Torheiten zu leisten“. In: T.M. Bardmann, T. Groth (Hrsg.): Zirkuläre Positionen 3. Organisation, Management und Beratung. Westdt. Verlag: Wiesbaden, S. 21-33.
Simon, F.B. (2013): Wenn rechts links ist und links rechts. Paradoxiemanagement in Familie, Wirtschaft und Politik. Carl Auer: Heidelberg.
Simon, F.B., Wimmer, R., Groth, T. (2017): Erfolgsmuster von Mehrgenerationen-Familienunternehmen (3. Aufl.). Carl Auer: Heidelberg.
- Im Nachhinein ist mir unser Verhalten auch ein wenig peinlich. Die Person „Schwester Hildegard“ änderte sich übrigens für uns fundamental, als sie zum Abschluss meiner Dienstzeit einmal reichlich angeschickert gegen Mitternacht, mit zwei vollen Aldi-Tüten in den Händen, überraschend zu einer Zivildienstparty erschien und kräftig mit uns weiterfeierte (…sie hatte nachmittags beim Einkauf eine Freundin getroffen, war mit dieser bei Kaffee und Cognac, womöglich aber auch bei Cognac und Kaffee versackt und hatte auf dem Nachhauseweg spontan beschlossen, uns jungen Leuten noch einen Besuch abzustatten – aber das ist eine andere Geschichte). ↩︎
- Recht ähnlich ist dieses nachzulesen in Argumentationen zur Schauseite einer Organisation bei Stefan Kühl (2011). ↩︎
- Bei allem Respekt vor der ausgeprägten Paradoxiefähigkeit von Schwester Hildegard bleibt zu erwähnen, dass ihre Fähigkeiten ohne ihre Erfahrung und Umsichtigkeit nicht einfach von anderen (z.B. unerfahrenen Zivildienstleistenden) zu kopieren sind. Es entstehen „Grauzonen“ in der alltäglichen Arbeit, die sich unter ungünstigen Bedingungen auch zu massiven, kritischen Ereignissen aufschaukeln können. Was für formal zuständige und ggf. auch haftende Entscheider:innen eine weitere Paradoxie aufwirft: Darf man ein „Schwester-Hildegard-Muster“ wissen und dulden (und im kritischen Fall Verantwortung übernehmen) oder sollte man besser wegschauen, um im Ernstfall die Abweichung als menschliches Versagen sanktionieren zu können? – Dies führt uns zur Frage der „brauchbaren Illegalität“ (Luhmann) – ein weiteres Themenfeld, dass wir nur streifen können; ich danke meinem Kollegen Stefan Günther für diesen Hinweis, wie auch Timm Richter für die Durchsicht mit weiteren, hilfreichen Anmerkungen. ↩︎