Fachwissen und Führung

von Timm Richter und Torsten Groth

In unserem Online-Kurs „Wirksam führen“ kam die Frage auf, in welchem Maße Fachwissen für Führung nötig bzw. hinderlich sei. So allgemein lässt sich die Frage kaum beantworten – es kommt immer darauf an … der Kontext macht einen Unterschied; was in der einen Firma (zu einer bestimmten Zeit) gut funktioniert, mag in einer anderen Firma (zu einer anderen Zeit) überhaupt nicht passen bzw. Verhaltensweisen, die einer Führungskraft positiv zugeschrieben werden, werden einer anderen zum Vorwurf gemacht. Gleichwohl lassen sich grundsätzliche Überlegungen anstellen, die bei der Beantwortung in den jeweils spezifischen Situationen helfen können.

©Foto von Sam Moghadam auf Unsplash

Wenn Fachwissen bei Führungskräften als kritisch gesehen wird, so ist es gut, aus der Situation herauszutreten und sich zunächst mit zwei Kontexten zu beschäftigen: Der Organisation mit ihren Rollenanforderungen an Führung einerseits und dem Führungsverständnis der jeweiligen Person anderseits. 

Den ersten Aspekt können wir hier nur andeuten – zu verschieden können Organisationen hinsichtlich Größe und Branche sein. Generell gilt, dass Führung als eine Führung zur Überlebenssicherung zu sehen ist. Dieser Grundfrage – auf die wir hier in der Tiefe nicht eingehen können – setzt den Rahmen. Und in diesem Rahmen hat sich Führung immer mit der Frage zu beschäftigen, wie die über alle Ebenen weit verteilte Expertise aller Mitarbeiter:innen angemessen eingezogen und in Führungsentscheidungen verdichtet werden kann. Hierin ist die „eigentliche“ Führungsleistung zu sehen. Ob die Expertise einer Führungskraft überhaupt noch einen Mehrwert liefert, oder aber Gegenteiliges bewirkt, in dem viele ihr Wissen zurückhalten, hierfür müssen Führungskräfte ein Gespür entwickeln.

Über den zweiten Aspekt – das Führungsverständnis – lassen sich eher verallgemeinerungsfähige Aussagen treffen. Kommt Kritik am Einbringen von Fachwissen auf, ist eher auf das Grundverständnis von Führung und Führungshandeln der Führungskraft zu schauen. Oft neigen Führungskräfte in (höheren) Führungspositionen zum Micromanagement. Sie sie setzen das fort, was sie erfolgreich im Unternehmen hat aufsteigen lassen und von dem sie meinen, dass sie es am besten können und an dem auch noch ihre berufliche Identität eng geknüpft ist: Sie nutzen ihre fachliche Expertise. Anstatt also Mitarbeitenden Entscheidungsfreiräume zu geben und sich auf die Rahmensetzung zu konzentrieren, geben sie – eher als die fachlich Unbedarften – der Versuchung nach, Dinge schnell (selbst) zu machen und auch Kleinigkeiten zu entscheiden – schlicht und einfach, weil sie meinen, es gut zu können. Sie kümmern sich mehr um sich als um ihre Funktion. Die fachliche Kompetenz, die sie in ihrer vorherigen Position erfolgreich gemacht hat, wird so zu dem Risiko in der neuen Führungsposition, hinzukommende Führungsaufgaben zu vernachlässigen und vorige Aufgaben und Routinen nicht aufzugeben.

Doch worauf sollten Führungskräfte nun achten? – Im Kontext unserer Auseinandersetzungen mit Führungsprozessen haben wir ein Modell von Führung entwickelt, in dem sich grundsätzlich drei Bereiche von Führungsaufgaben unterscheiden lassen zu denen Führungskräfte einen Beitrag leisten können:

  • Direct: für Richtung sorgen
  • Manage: die Dinge geregelt bekommen
  • Lead: Menschen gewinnen

Direct: für Richtung sorgen 

Ein erster Aufgabenbereich ist es, für eine inhaltliche Richtung zu sorgen. „Dafür sorgen“ ist sehr bewusst gewählt, denn Führungskräfte können Dinge selbst entscheiden oder einen Prozess orchestrieren bzw. fördern, der eine Richtung entstehen lässt. Diese Ausrichtung kann unterschiedliche Detaillierungsgrade haben und dementsprechend mehr oder weniger Spielraum (für andere) lassen. Visionen, Purpose-Definitionen oder Missionen sind sehr offen formuliert, Strategien und Ziele schon deutlich konkreter. Daneben können auch die roten Linien definiert werden, die auf keinen Fall überschritten werden dürfen. Diese inhaltliche Ausrichtung hat viel mit konzeptioneller Arbeit zu tun, es geht um die Frage, wohin der Fokus der Aufmerksamkeit im Unternehmen gelenkt wird. Dabei geht der Blick nach außen und in die Zukunft, es wird vor allem in der Zeitdimension gearbeitet, indem gefragt wird, wie man sich heute (um)orientieren muss, um morgen noch im Spiel zu sein.

Manage: Dinge geregelt bekommen

Des Weiteren wird von Manager:innen gefordert, dass sie den Laden im Griff haben, dass der Laden läuft. Dieser Aufgabenbereich von Führung wird also konkreter und prozessualer gedacht, die vorgegebene Richtung wird operationalisiert. Manager:innen (egal ob qua formaler Rolle oder informal) sorgen dafür, dass es (gut, d.h. im Sinne der Überlebensfähigkeit der Organisation) weitergeht, dass Mitarbeitende, Teams, Abteilungen ihren Job machen können (in agilen Arbeitskontexten spricht man auch davon, Hindernisse aus dem Weg zu räumen), oder auch, dass Ressourcen zur Umsetzung bereitstehen. Dieser Aufgabenbereich dreht sich darum, dass Handlungsfähigkeit organisationsweit erzeugt wird und erhalten bleibt. Und dies bedeutet allgemein, Entscheidungsfähigkeit sicherzustellen – z.B. durch eine feste Aufbau- und Ablauforganisation oder durch Ad-hoc-Festlegungen, wer was zu tun hat. Mit dazu gehört auch die kontinuierliche Arbeit an der Verbesserung des Bestehenden (z.B. KVP, Lean Management, Kaizen, ..) In Kontexten von New Organizing findet man z.B. agile Methoden wie Scrum oder Kanban, deren Fokus nicht auf Einzelentscheidungen liegt, sondern die die Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit über Prozesse definieren und so sicherstellen, dass Probleme gemanagt werden können. Deutlich sollte werden, auch wenn die Führungsdimension „Manage“ Anklänge von Micromanagement hat, es geht weiterhin darum, den Organisationsrahmen zur Verfügung zu stellen, in dem die Richtungsvorgaben („direct“) in Wirksamkeit überführt werden. 

Lead: Menschen gewinnen

Dieser dritte Aufgabenbereich umfasst vor allem die Führungsaufgaben, die oft als Erstes beim Gedanken an Führung in den Sinn kommen, nämlich Personalführung. Es dreht sich dabei um die Frage, wer Mitglied der Organisation wird oder bleibt, in welcher Rolle die Mitarbeitenden eingesetzt werden, und wie die Leistungsfähigkeit einer Person in ihrer Rolle gesichert und gesteigert werden kann. Der Fokus der Aufmerksamkeit verschiebt sich bei diesem Aufgabenbereich darauf, Umfelder und Voraussetzungen zu schaffen, in denen Individuen möglichst gut einen Beitrag leisten können. Ein „Leader“ zu sein, bedeutet, Menschen so anzusprechen und einzubinden, dass sie leistungsfähiger in einer für sie passenden Rolle sind. Auch kümmert man sich darum, dass Mitarbeitende Karrierechancen in Organisationen haben, damit sie im beiderseitigen Interesse wachsen können. Hier steht die Sozialdimension im Fokus.

Wer nun Micromanagement betreibt, legt einen übertriebenen Fokus auf den Bereich „Manage“ und legt diesen so aus, dass persönlich gemangt wird. Diese „Falle“ besteht aber nicht nur für Fachleute in Führungspositionen. Die „die Vordringlichkeit des Befristeten“ (Luhmann), also den operativen Druck, spüren ebenfalls Führungskräfte, die keine Ahnung vom Fach haben. Und auch Henry Mintzberg berichtet in seinem Buch „On Management“, dass Top-Führungskräfte stets von operativen Belangen belagert werden und sich Zeit für z.B. strategische Arbeit aktiv schaffen müssen. Insofern scheint das Risiko des Micromanagements durchaus ein allgemeines Phänomen zu sein, dass darauf zurückzuführen ist, dass wir uns als Menschen in aktuellen Situationen verstricken bzw. verlieren und dann nicht ausreichend in der Lage sind, von außen auf Führungsprozesse zu schauen. Es erfordert offenbar kontinuierliche Anstrengung – eine Sisyphus-Arbeit – sich reflexive Distanz zu bewahren und auch in operativ hektischen Situationen nicht den Überblick und den Fokus auf die wesentlichen Themen zu verlieren.

Wenn dem so ist, dann wäre es bei Beförderungen zu Führungskräften viel wichtiger, unabhängig von Fachlichkeit darauf zu achten, in welchem Maße sie allgemein in der Lage sind, Situationen immer in ihrem Kontext zu verstehen und auch die Gestaltung des Kontextes in ihr Führungshandeln einzubeziehen, wobei alle drei Bereiche – Direct, Manage, Lead – ausreichend abgedeckt sein sollten. Wer sich nur selbst (als Expert:in) führt, kann viel mit sich selbst ausmachen. Bei der Übernahme von Führungsverantwortung für Mitarbeitende oder auch (fachlich) für Teams muss man darüber hinaus Interaktionskontexte so gestalten, dass Mitarbeitende einen guten Beitrag (Lead) zu einem gemeinsamen Ziel (Direct) leisten können. Und bei der indirekten Führung von größeren Abteilungen oder ganzen Organisationen wird es notwendig, mit viel mehr Distanz organisationale Entscheidungsprozesse so zu gestalten, dass eine übergreifende Richtung (Direct) und dafür hinreichende Strukturen und Prozess (Manage auf abstrakterer Ebene) im Organisationskontext entstehen. Die Fähigkeit zu so einer erweiterten Gestaltung von Situationen und ihren Kontexten geht über Fachlichkeit hinaus. Es gilt, die zu führende Einheit von außen in Bezug auf ihre relevanten Umwelten im Blick zu haben und einen Beitrag zu leisten, dass die zu führende Einheit ausreichend an die relevante Umwelt angepasst ist. In diesem Sinne arbeiten Führungskräfte an der Grenze zwischen zu führenden Einheit und Umwelt, es geht um die Gestaltung von Beziehungen und Kopplungen – zwischen Menschen, Teams, Abteilungen und Organisationen. Man braucht ausreichend Ambiguitätstoleranz, Geschick und Kreativität, um die vielen (widersprüchlichen) Perspektiven zu erkennen und einen Rahmen zu schaffen, damit sie produktiv werden.

Gleichzeitig ist für diese Grenzarbeit ein Mindestmaß an Fachlichkeit notwendig. Eine Führungskraft braucht mindestens so viel Fachlichkeit, dass sie sich gut mit dem zu führenden System (Teams, Abteilungen, Organisationen) koppeln kann, dass sie auch „Übersetzungsarbeit“ an der Grenze zwischen System und Umwelten leisten kann. Für Management-Aufgaben ist es nützlich, das Handwerk in den Grundzügen zu verstehen. Bei der Gestaltung von Strukturen und Prozessen kann man sehr stark von fachlichen Erfahrungen profitieren und in den Situationen, wo es notwendig ist, auch schnell mit einer höheren Wahrscheinlichkeit sachlich angemessen zu entscheiden. Die meisten von uns würden, wenn es drauf ankommt operative Exzellenz zu organisieren, wahrscheinlich auch eher auf erfahrene Projektleiter oder langjährige Schichtleiter setzen, anstatt auf Generalisten, die wenig bis keine Erfahrung von den konkreten Herausforderungen haben. Wer einen Beitrag zur Richtungsgestaltung leisten oder Richtungsoptionen beurteilen möchte, verfügt am besten über Expertise im relevanten Markt. Man sollte zumindest über so viel Know-How haben, dass man unterschiedliche Optionen angemessen beurteilen kann. Und auch für die Beurteilung der Eignung von Mitarbeitenden in Rollen braucht es ein Mindestmaß an fachlicher Expertise. In vielen Professionen ist es sogar so, dass die Professionals gerne mit und bei den besten des Faches arbeiten wollen. Für die Gewinnung und Bindung von Talenten hilft also eine gute fachliche Reputation im Markt oder in der Profession.

Ein sehr interessantes Beispiel dafür, dass die Betonung von Fachlichkeit bei Führungskräften einen strategischen Unterschied machen kann, bietet Apple. Laut des HBR Artikels von Morton Hansen und Joel Podolny, dem Dean und Vice President der Apple Universität, wird bei Apple von Führungskräften erwartet, dass sie die besten ihres Faches sein sollen! Konkret gibt es drei Dinge, auf die geachtet wird:

  • Deep expertise
  • Immersion in the details (three levels down in the hierachy!)
  • Willingness to collaboratively debate

Während die ersten beiden Punkte die Fachlichkeit betonen, ist der dritte Punkt die Voraussetzung für das Grenzmanagement und die Kopplung von zu führenden Einheiten mit ihren (unternehmensinternen) Umwelten. Übrigens wird in dem Artikel auch gesagt, dass diese Betonung der fachlichen Expertise von Führungskräften deswegen gewählt wurde, weil schnelle Innovation die Strategie von Apple sei. In anderen Organisationskontexten mag das also anders sein.