von Timm Richter
Im Diskurs über moderne, agile Formen der Führung wird in der Regel normativ gefordert, dass Hierarchien möglichst flach sein sollen, dass diejenigen die Entscheidungen treffen, die möglichst nah am Kunden sind. Das sind dann einzelne Mitarbeiter:innen und Teams, die – so die gängige Argumentation – besser entscheiden können, weil sie bessere (d.h.: mehr? relevantere? richtigere?) Informationen haben als das Management oder Führungskräfte, die “da oben” viel zu abgehoben und entrückt sind. In jedem Fall wird eine möglichst weitreichende Entscheidungsdelegation als überlegen und erstrebenswert angesehen, und Führungskräfte sollen vielleicht noch (über einen Purpose / eine Vision / eine Strategie) einen Rahmen zur Verfügung stellen, aber sich ansonsten zurückhalten bzw. dafür sorgen, dass Mitarbeitende und Teams ihre Arbeit machen können. Wer dieses Narrativ in Frage stellt, gerät leicht unter Rechtfertigungsdruck.
Davon sollte man sich aber nicht abhalten lassen, genau dies zu tun. Eine produktive Art ist es, die Frage nach der Funktionalität von flachen Hierarchien und umfangreichen Entscheidungsfreiheiten für Mitarbeitende und Teams zu stellen. Das Problem, das gelöst werden soll, ist, bessere Entscheidungen zu treffen. Aber was heißt in diesem Zusammenhang “besser”? Es geht – etwas abstrakter und grundsätzlicher formuliert – immer um die Frage, wie man Orte und Formate des Entscheidens so organisiert, dass die Überlebensfähigkeit der Organisation erhöht wird. Befürworter von flachen Hierarchien unterstellen, dass Mitarbeitende und Team “vor Ort” es immer besser wissen als andere. Nun mag es sogar sein, dass Mitarbeitende und Teams (über ihren intensiveren Kundenkontakt) mehr Informationen über die Sachverhalte haben, mit denen sie sich lokal (in ihrem Kundenkontakt) beschäftigen. Aber selbst wenn sie dadurch hier bessere, d.h. lokal optimierte Entscheidungen treffen, heißt das noch lange nicht, dass so mit höherer Wahrscheinlichkeit Entscheidungen getroffen werden, die als optimal für die Gesamtorganisation angesehen werden. In der Regel ist es so, dass “optimale” Lösungen für einen Teilbereich “suboptimale” Konsequenzen in anderen Teilbereichen haben. D.h. es müssen Entscheidungen in der Abwägung zwischen Mitarbeitenden und Teams getroffen werden – mit beliebig zunehmender Komplexität in den Abhängigkeiten, wenn eine Organisation größer wird.
Nehmen wir als Beispiel eine Versicherung, die KFZ-Policen anbietet: hier mag es ein Team geben, dass Tarife konzipiert, Versicherungsbedingungen festlegt und dabei unterschiedlichste Risikoprofile von den Kunden inklusive Profitabilitätserwartungen abwägen muss. Dann gibt es vielleicht Vertriebsteams, die je nach Vertriebskanal (online, stationär, Vertriebspartner) und Kundensegmenten (z.B. Privatkunden und Firmenkunden) verschiedene Präferenzen an die Produktgestaltung haben, die den Vorstellungen des ersten Teams widersprechen. Die Entwicklungsteams, die sich um die Programmierung der Tarife kümmern, bringen wieder andere Restriktionen mit ins Spiel – möglicherweise haben diejenigen Teams, die noch alte Software weiterentwickeln müssen, andere Optimierungsvorstellungen als diejenigen, die die Webpräsenz programmieren. Und diejenigen Teams der Kundenbetreuung, dies sich um die Schadensabwicklung kümmern, würden sich sehr freuen, wenn die Vertragsbedingungen an manchen Stellen leicht anders formuliert wären, um das Kundenerlebnis im Schadensfalle deutlich zu verbessern – wovon das Team, dass die Verträge gestaltet, aber gar nichts weiß.
Bereits an diesem Beispiel kann man erkennen, dass die Koordination von Entscheidungen in einer Organisation ein hoch komplexes Unterfangen ist. Der Ansatz, Entscheidungskompetenzen möglichst stark zu dezentralieren, hat den Preis, dass Integrationsleistungen zwischen dezentralen Einheiten erschwert werden und unbeabsichtige Nebenwirkungen wahrscheinlicher werden. Hierarchische Organisationsformen können (müssen aber nicht immer) helfen, Konflikte an Schnittstellen (schneller) zu entscheiden. Und es gibt viele Entscheidungen, die für eine Gesamtorganisation oder übergeordnete Einheiten von Teams getroffen werden sollten, wo es kontraproduktiv und unangemessen wäre, diese Entscheidungen dezentralen Einheiten zuzumuten, z.B.: eine gemeinsame Strategie, übergreifende IT-Systeme für Geschäftsabläufe oder Kommunikation (nutzen wir Zoom oder Teams?), Zeichnungsberechtigungen, Teamkompetenzen, etc. In solchen Fällen ist eine zentrale Stelle besser in der Lage, Entscheidungen zu treffen, weil sie von lokalen Spezifika absieht und auf generelle, übergreifende Optimierungen achtet.
Es geht also niemals darum, möglichst viel Entscheidungskompetenzen zu delegieren, sondern angemessen viel. Mit dieser Formulierung wird eine Position der Beobachtung 2. Ordnung sichtbar. Flache Hierarchien sind eine mögliche Lösung für das übergreifende Bezugsproblem der Sicherstellung von Entscheidungsfähigkeit. Aber es gibt auch andere funktionale Äquivalente, wie man Entscheidungsfähigkeit sicherstellen kann. Und deswegen geht es aus einer systemtheoretischen Perspektive stets darum – um die wesentliche Formulierung von oben zu wiederholen -, Orte und Formen des Entscheidens so zu organisieren, dass sich Führung auf allen Ebenen der Organisation vollziehen kann. Aus dieser Perspektive versucht man nicht, eine bestimmte Organisationslösung – z.B. flache Hierarchien – bedingungslos zu implementieren, sondern auftretende Balancierungsfragen in Bezug auf Entscheidungsprozesse situativ und provisorisch immer wirder neu zu justieren:
- Zentral – dezentral: Welche Entscheidungen können am besten vor Ort getroffen werden, wo ist Integration notwendig?
- Entscheidungsprämissen – Entscheidungen: Welche Rahmungen in Form von Programmen (Vision, Strategie, Ziele, Richtlinien), Kommunikationswegen (Aufbau- und Ablauforganisation) und Personal (Personen in Teams / auf Stellen) sind angemessen, um so Entscheidungsfreiräume für Mitarbeitende und Teams zu schaffen?
- Öffnen und Schließen: Wie können wir dafür sorgen, dass in unserer Organisation die beiden Phasen des Öffnens (Exploration von Optionen) und Schließens (Treffen einer Auswahl) von Entscheidungsprozessen mit hoher Kompetenz durchgeführt werden?
- Formal – informal: In welchem Maße sollen Entscheidungskompetenzen formal definiert oder aber informal offen gehalten werden?
- Verantwortung – Verantwortlichkeit: Wie gut gelingt es uns, die beiden Aspekte des Entscheides – “Wer entscheidet?” und “Wer wird verantwortlich gemacht?” bei Delegationen aufeinander abzustimmen?
Der Hierarchisierungsgrad ist nur ein Aspekt, den man mit einer systemtheoretischen Brille betrachten kann. Weitere Aspekte behandeln und vertiefen wir in unserem Seminar »Der systemische Dreh für Agilität, New Work & Co.«, der am 2. September startet.