von Timm Richter
Manche Mitarbeitende werden auf die Frage vielleicht antworten: Nein, meine GF leider nicht, die entscheidet nie! Geschenkt. Aber mal angenommen sie wollten es, könnten sie es denn prinzipiell? Die Frage klingt banal, zunächst. Agile Coaches würden vielleicht einwerfen: nein, denn die Welt ist viel zu komplex, als dass die GF das alles überblicken würde. Die können also nicht „richtig“ entscheiden und sollten es deswegen den Mitarbeitenden überlassen. Und manche systemische Berater:innen argumentieren, dass GF nicht entscheiden können, da Organisationen selbstorganisiert und deswegen nach ihrer eigenen Logik operieren. Überhaupt müsse man der GF die Illusion nehmen, dass sie Kontrolle über die Organisation hätte.

Das Stören der Kontrollillusion erscheint mir wichtig, aber nur in dem Sinne, dass GF sich nie sicher sein können, ob ihre Entscheidungen auch umgesetzt werden und ob sie (nur) die intendierten Wirkungen erzielen. Aber natürlich können GF entscheiden und tun das auch … mit erheblichen Auswirkungen. Ein wichtiger Vertrag mit dem größten Kunden oder Lieferanten, die Ansiedlung eines neuen Werkes in Asien und nicht den USA, eine andere Verteilung von Investitionen, eine Reorganisation – alles (formale) Entscheidungen, die einen riesigen Unterschied machen. Genau deswegen ist es angebracht, GF (und uns) für ein vertieftes Verständnis von Entscheidungen zu sensibilisieren.
Zunächst: Agile Coaches haben recht, dass GF nicht im Vorhinein wissen können, ob eine Entscheidung sich in der Zukunft als richtig herausstellen wird. Dies wissen Mitarbeitende aber auch nicht, niemand weiß das1. Ob eine Entscheidung richtig ist, weiß man immer nur nachher. Könnte man es im Augenblick der Entscheidung wissen, dann wäre es keine Entscheidung, sondern eine Berechnung! 2+2=4, das muss man nicht entscheiden. Entscheidungen braucht man immer nur dann, wenn eine Auswahl aus gleichwertigen Alternativen getroffen werden muss. Entscheiden ist etwas anderes als die richtige Lösung eines Rätsels herausfinden. Das fällt im Alltag oft wenig auf, da viele in Entscheidungssituation (implizit) von der Hypothese ausgehen, dass es sich nicht um eine Entscheidungssituation, sondern um ein „Rätsel“ oder „Rechenaufgabe“ handelt, man das „beste“ Vorgehen also ausrechnen kann. Bei Entscheidungen hingegen sind die Alternativen per Definition symmetrisch, keine Alternative sticht entscheidend hervor. Entscheidungen ersetzen Information, die man nicht hat, und weil man es (leider) nicht besser weiß, geht man das Risiko ein so zu tun, als ob man es „besser wüsste“. Je schwerwiegender die Informationslücke, desto größer die Verantwortung.
Der „Trick“ (oder der Wirkmechanismus) einer Entscheidung ist die Erzeugung der Erwartung, dass die Entscheidung bei zukünftigen Handlungen berücksichtigt wird. Eine Entscheidung normiert Folgehandlungen in dem Sinne, dass man nun jede Handlung dahingehend bewerten kann, ob sie der Entscheidung (verstanden als Norm) folgt (!)2 oder nicht. Wenn die Entscheidung als Norm „funktioniert“, dann wird Zukunft „aus dem Nichts“ gebunden, es wird Unsicherheit über die Zukunft absorbiert. Und so schaffen Entscheidungen Informationswert und machen einen Unterschied.
“Wenn die Entscheidung funktioniert“ – bei der Beantwortung der Frage, ob GF entscheiden können, sollte man nicht nur den Akt des Entscheidens betrachten, sondern auch die Voraussetzungen und Folgen von Entscheidungen in den Blick nehmen – oder anders gesagt über (Un-)Entscheidbarkeit nachdenken. Unentscheidbarkeit – also nicht entscheiden können – kann man nämlich auf drei verschiedene Weisen interpretieren. Sie tauchen alle in der Praxis auf und sind dementsprechend relevant.
Die erste Weise wurde schon erwähnt: es ist nicht möglich, ex ante richtig zu entscheiden. Jede vermeintliche Entscheidung, von der vor einer Überprüfung behauptet wird, sie wäre richtig, ist – wenn es denn stimmt – eine Berechnung3. Insbesondere ist alles, was sicher vorhersehbar ist, nicht entscheidbar. Über Naturgesetze, z.B. die Schwerkraft, kann nicht entschieden werden. Egal wie man sich „entscheidet“, was der Apfel tun soll, wenn man ihn loslässt, er fällt immer zu Boden. Dies ist ein extremes Beispiel für die zweite Interpretation, nämlich dass mit Entscheidbarkeit die Umsetzung oder ihre Durchsetzbarkeit gemeint ist. Wenn z.B. ein Hausmeister einen ungebetenen Gast vom Betriebsgelände verweisen will, und der Gast sagt „Das können Sie gar nicht entscheiden“, dann ist dies ein Ausdruck von Unentscheidbarkeit im Sinne von mangelnder Durchsetzbarkeit von Entscheidungen. In diesem Falle gibt es keine oder nur wenige Möglichkeiten, die Einhaltung einer Entscheidung sicherzustellen. Bei manchen Entscheidungen geht dies technisch, z.B. kann man Zeichnungsberechtigungen in IT-Systemen hinterlegen, aber für die meisten Entscheidungen kann die Art und Weise ihrer Umsetzung bzw. Einhaltung nicht kontrolliert werden. Dies ist die Kontrollillusion von oben, die man aufgeben muss. Eine dritte Weise der Interpretation von Entscheidbarkeit betrachtet die Frage, ob und wie die Einhaltung einer Entscheidung überprüft werden kann. Was sind also die positiven Merkmale, an denen man erkennen kann, dass die Entscheidung eingehalten oder umgesetzt wurde? Die Einhaltung von Höchstgeschwindigkeiten im Straßenverkehr lässt sich durch Messung eindeutig überprüfen. In der StVO heißt es in §1 (2) aber auch:
„Wer am Verkehr teilnimmt, hat sich so zu verhalten, dass kein anderer geschädigt, gefährdet oder, mehr als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird.“
Das ist schon viel schwieriger zu überprüfen, da Wertungen ins Spiel kommen. Was genau soll „gefährdet“ oder „unvermeidbar“ bedeuten? Der §1 (2) wurde zwar entschieden – er steht so in der Verordnung – aber man kann keine abschließende Liste von Merkmalen angeben, anhand derer man immer und in jeder Situation „entscheiden“ (=berechnen) könnte, ob man sich an den Paragrafen gehalten hat. In Organisationen gibt es ähnliche Situationen: woher weiß man, ob die Entscheidung innovativ zu sein oder vertrauensvoll miteinander umzugehen eingehalten wurde? Das ist eben unentscheidbar in dem Sinne, dass man es nicht an überprüfbaren Merkmalen festmachen kann, dass man immer nur in konkreten Fällen spezifisch sagen kann, ob man sie als innovativ oder vertrauensvoll bewertet. Entscheidungen, deren Einhaltung man mangels Kriterien nicht überprüfen kann, entfalten eine viel geringere Bindungskraft für die Zukunft – wie z.B. das verkündete Leitbild, das zwar auf Plakate geschrieben wird, das aber ansonsten wenig Relevanz hat.
Also zusammenfassend: nur das, was nicht berechnet werden kann, kann überhaupt entschieden werden. Je konkreter die Überprüfbarkeit der Einhaltung von Entscheidungen, desto stärker die potenzielle Lenkungswirkung. Aber die Umsetzung und eventuelle Nebenfolgen von Entscheidungen entziehen sich größtenteils der Kontrolle, sofern sie nicht technisch sichergestellt werden können. Dies ist der Rahmen, in dem GF entscheiden können.
- Und es sei noch angemerkt: die Einschätzung des richtig und falsch kann sich über Zeit auch mehrfach ändern, wenn es immer wieder neue Informationen gibt. ↩︎
- Und so werden dann Entscheidungen ein wichtiger Bestandteil von Führung und Führungsschleife. Mehr dazu in unserem Buch »Wirksam führen mit Systemtheorie«. ↩︎
- In der theoretischen Informatik wird untersucht, ob man für die Lösung von Problemen einen Algorithmus –Entscheidungsverfahren genannt – angeben kann oder nicht. Im Sprachgebrauch der Informatik nennt man Probleme, die man immer ausrechnen kann, entscheidbar. Und mit diesem Wortsinn versteht man die Aussage von Heinz von Foerster, dass nur die (im Sinne der theoretischen Informatik) unentscheidbaren Probleme (im Sinne dieses Artikels) entschieden werden müssen. ↩︎