von Timm Richter
In der Organisationsforschung und in Beratungsprozessen wird zurecht auf Entscheidungsprozesse fokussiert. Die Organisationspraxis zeigt zusätzlich: Wo entschieden wird, da wird auch delegiert. Sobald Organisationen etwas größer werden, können nicht mehr alle Entscheidungen von allen oder von einer Person allein getroffen werden. Und so stellt sich die Frage, auf welche Art und Weise die Delegation von Entscheidungen ge- oder misslingen kann.
Um Muster in der Delegation zu erkennen, ist es nützlich, zunächst Verantwortung (eng.: Responsibility) und Verantwortlichkeit (eng.: Accountability) zu unterscheiden. Wer entscheidet, der übernimmt mit der Entscheidung aktiv Verantwortung. Denn entscheiden bedeutet, dass es zwei gleichwertige Alternativen gibt, von denen man nicht weiß, welche sich (im Nachhinein) als bessere herausstellen wird. Hätte man mehr Informationen, wüsste man es vielleicht besser, aber da Informationen fehlen, muss man sie durch eine Entscheidung ersetzen und so tun, als ob man es besser wüsste. Je mehr Informationen fehlen, desto größer ist die Verantwortung der Entscheidung.
Wenn entschieden wurde und man mit den Ergebnissen (un-)zufrieden ist, stellt sich die Frage, wer für die Entscheidung verantwortlich gemacht wird, um Lob oder Tadel zu bekommen. Dies ist die Verantwortlichkeit – oder auch Rechenschaftspflicht – einer Entscheidung, die stets von anderen zugeschrieben wird. Man wird für die Entscheidung passiv verantwortlich gemacht und ist der Empfänger der folgenden Konsequenzen, die man – bei negativer Bewertung – erleidet, bzw. über die man sich – bei positiver Bewertung – freuen kann.
Wenn nun also eine Entscheidung delegiert wird, stellt sich stets die Frage, was genau delegiert wurde: die Verantwortung und/oder die Verantwortlichkeit der Entscheidungen? Und es wird auch klar, dass es hier zu Missverständnissen oder unterschiedlichen Auffassungen kommen kann zwischen denjenigen, die delegieren, und denen, die entscheiden sollen. Insgesamt zeigen sich unserer swf-Beratungspraxis sechs gängige Muster der Delegation:
(1) Empowerment
In diesem Muster werden sowohl die Verantwortung wie auch die Verantwortlichkeit synchron delegiert. Einheiten (z.B. Teams) oder Mitarbeitende erhalten die Erlaubnis für Entscheidungen und werden gleichzeitig für die Ergebnisse der Entscheidungen verantwortlich gemacht – im positiven wie im negativen Falle. Eine Business Unit bekommt z.B. die Freiheitsgrade, eigenständig über Produkte, Preise und Ressourcen zu verfügen; sie kann erzielte Gewinne wieder eigenverantwortlich investieren, muss allerdings auch bei ausbleibenden Umsätzen entsprechend Kosten anpassen. Oder aber die Organisation eines Teamevents wird an eine Person delegiert, die dann für die Durchführung Lob oder Beschwerden erhält. In allen Fällen von Empowerment wird Führung auf eine breitere Basis gestellt und auf mehrere Stellen verteilt. Diese Form der Delegation ist anspruchsvoll, will man doch alle relevanten Aspekte eines gelingenden Empowerments in der Vorbereitung und Anbahnung zu berücksichtigen. Neben umfangreicher Information seitens der abgebenden Funktion kommt es auf Seiten der Empowerten z.B. auf Motivation, Kompetenzen und Ressourcen an. Um Enttäuschungen zu vermeiden und eventuell notwendige Anpassungen zeitnah vornehmen zu können, empfiehlt es sich, auch nach der Delegation über die Delegation regelmäßig zu reflektieren.
(2) Rahmung mit Risiko
Diese Form der Delegation ist vor allem bei der Führung von Teams und Mitarbeitenden verbreitet. Teams oder Mitarbeitende werden dazu aufgefordert, selbstständig Entscheidungen innerhalb eines vorgegebenen Rahmens zu treffen. Damit wird Verantwortung abgegeben. Gleichzeitig bleibt die Verantwortlichkeit für die Entscheidungen bei der delegierenden Einheit, im Falle von Teams oder Mitarbeitenden der Führungskraft. Vor allem bei (im Nachhinein) negativ bewerteten Entscheidungen wird die Führungskraft von der Umwelt für die Entscheidung verantwortlich gemacht und muss sich dafür rechtfertigen, warum sie (fahrlässig ?!) die Verantwortung für die Entscheidung delegiert hat. Diese Form der Delegation schafft Lernchancen und Freiräume für Team oder Mitarbeitende um den Preis, dass die delegierende Einheit das Risiko eingeht, dass das bei der Delegation gegebene Vertrauen – aus welchen Gründen auch immer – enttäuscht wird.
Dieses Risiko in der Delegation macht verständlich, dass Führungskräfte – hoffentlich besonnen – abwägen, in welchem Maße sie Verantwortung delegieren, wenn doch stets ein „Restrisiko“ von Verantwortlichkeit bei ihnen hängenbleibt. Und dieses Restrisiko gibt es auch in Organisationen, die von sich behaupten, ganz flach oder sogar hierarchiefrei organisiert zu sein. Denn sobald sie gesetzliche Vertreter (z.B. Vorstände oder Geschäftsführer) haben, werden diese im Außenverhältnis – außer bei Vorsatz – auch für die Entscheidungen von Organisationsmitgliedern verantwortlich gemacht.
Wer bewusst Entscheidungen mit Risiko innerhalb eines Rahmens delegiert, der folgt in der Regel auch dem Motto: Erfolge gehören dem Team, Misserfolge der Führungskraft.
(3) Schwarzer Peter
Das umgekehrte, dysfunktionale Muster kann man mit dem Motto »Erfolge gehören der Führungskraft, Misserfolge dem Team« beschrieben. Hier werden Verantwortung und Verantwortlichkeit vertauscht, d.h. die Führungskraft hält sich selbst in der Verantwortung, entscheidet also weiterhin selbst, und delegiert stattdessen die Verantwortlichkeit, vor allem dann, wenn sich Entscheidungen (im Nachhinein) als falsch herausstellen. Dies führt in der Regel zu Wut und (innerer) Kündigung bei Betroffenen. Ein Beispiel für dieses Schwarze-Peter-Spiel (eng.: Blame Game) ist der Abgasskandal bei VW. Von außen könnte man den Eindruck gewinnen, dass oberste Führungskräfte durchaus entschieden bzw. mindestens wissend geduldet haben, gemachte Vorgaben auf rechtlich unzulässige Weise umzusetzen, sie aber dann im Nachgang versuchen, andere dafür verantwortlich zu machen. Ein anderes Beispiel: Es soll Unternehmen geben, die sich jedes Jahr von Mitarbeitenden für den Fall der Fälle schriftlich bestätigen lassen, dass die Mitarbeitenden Compliance Regeln einhalten, die aber gleichzeitig (informell) erwarten, dass gegen eben diese Regeln verstoßen wird. – Schwarze-Peter-Spiele sind vor allem dann zu erwarten, wenn harte Sanktionen bei (vermeintlichen) Fehlern befürchtet werden. Dann werden Entscheidungen nicht unter dem Gesichtspunkt einer möglichst guten Entscheidung für die Zukunft behandelt, sondern unter dem Gesichtspunkt der Vermeidung von negativen Folgen für diejenigen, denen die Entscheidung zugeschrieben wird.
Während das Schwarze-Peter-Spiel eine manifeste Form der Delegation von Verantwortlichkeit ohne Verantwortung ist, gibt es auch zwei latente Formen, in denen Verantwortlichkeit vermieden wird.
(4) Untätigkeit
Die erste Form der Vermeidung tritt dann auf, wenn der Versuch unternommen wird, Verantwortung zu delegieren, aber die Verantwortung gar nicht übernommen wird. Mitarbeitende oder Teams sollen entscheiden, tun dies aber nicht und Dinge bleiben unentschieden. Hier wird sichtbar, dass Verantwortung eben immer nur aktiv übernommen wird und man niemanden dazu zwingen kann. Stellt man Untätigkeit in Bezug auf Entscheidungen fest, so ist eine mögliche Vermutung, dass das Angebot der Verantwortungsübernahme als Überforderung oder gar Bedrohung wahrgenommen wird. Das kann auch passieren, wenn eine Führungskraft die Absicht hat, die Verantwortlichkeit bei sich zu behalten, denn damit eine Delegation der Rahmung mit Risiko gelingt, müssen die Mitarbeitenden bzw. das Team darauf vertrauen, dass die Führungskraft tatsächlich für eventuelle Misserfolge verantwortlich gemacht wird.
In diesem Delegationsmuster kann es zuweilen helfen, wenn die delegierende Person Beratung oder auch eine vorherige Rücksprache mit dem Delegierenden vor der Entscheidung anbietet, um die Verantwortungsübernahme wahrscheinlicher zu machen.
(5) Diffusion
Eine andere Form, Verantwortlichkeit zu vermeiden, besteht darin, die Verantwortung für Entscheidungen so weit zu verteilen, dass Verantwortlichkeit nicht mehr adressiert werden kann. In diesem Muster ist oft beobachtbar, dass weit mehr Personen also nötig in Entscheidungsmeetings eingeladen, dass sehr viele Personen in cc gesetzt und um Freigaben gebeten werden, dass erst noch von anderen Stellen zusätzliche Informationen eingeholt werden etc. Auf diese Weise gelingt eine Entlastung von Verantwortlichkeit, allerdings um den wahrscheinlichen Preis, dass auch nur sehr wenige (wichtige) Entscheidungen getroffen werden.
(6) Scheinheiligkeit
Ein letztes gängiges Muster der Entscheidungsdelegation ist Scheinheiligkeit in Bezug auf Verantwortung. Hier wird behauptet, dass Entscheidungen delegiert werden, im tatsächlichen Handeln lässt sich dann allerdings feststellen, dass das gar nicht stimmt. Mitarbeitende oder Teams geraten hier in Double Bind-Situationen, z.B. wenn ihnen auf der einen Seite eine Aufgabe übertragen wird und sie andererseits sehr kleinteilig bei der Ausführung korrigiert werden. Die Delegation wird konterkariert vom Eindruck, dass die Führungskraft keine Abweichungen von ihrer Vorstellung des „richtigen“ Vorgehens duldet. In einer solchen Situation kann man mit Irritation und Blockade auf Seiten der Mitarbeitenden bzw. des Teams rechnen. Oder es passiert, dass sich über Zeit das Muster der Untätigkeit einschleicht, wenn also die Vorstellung um sich greift: wenn die Führungskraft doch eh alles besser weiß, dann soll sie es doch selbst machen oder uns deutlich ansagen, was zu tun ist.
Bei all den genannten Formen der Entscheidungsdelegation gilt es zu bedenken, dass sie gemeinsamen aufrechterhalten werden. Muster werden zusammen erzeugt. Sobald Delegation als problematisch erlebt wird, bietet es sich an, in Diskussion zu gehen über das erlebte Verhältnis von Verantwortung und Verantwortlichkeit. In den sechs Delegationsmuster können die Beteiligten sich selbst reflektieren und haben die Chance gemeinsam Ansätze zu finden, wie Entscheidung ggf. passender delegiert werden können.