Systemische Expertenberatung – Wie Expert:innen in ihrer Organisation wirksamer werden

von Dr. Annette Gebauer und Stefan Günther

Wenn doch bloß…
  • …das operative Management mehr Zeit investieren würde, sich mit uns um die wichtigen Zukunftsfragen zu kümmern!
  • …Führungskräfte uns Fachbereiche nicht nur als reine Dienstleister und Auftragnehmer behandeln würden! 
  • …die Aufmerksamkeit für wichtige inhaltlichen Fragen weniger flüchtig wäre und deshalb eine Initiative ständig die nächste jagt!
  • … wir als Fachabteilungen uns untereinander im Kampf um Aufmerksamkeit und knappe Ressourcen das Leben weniger schwer machen würden!

„Dann, ja dann könnte man“ – so hören wir es immer wieder von Vertretern interner Fachfunktionen in Zentral – und Serviceeinheiten – „endlich gute und wirksame Beiträge leisten.“

Unterschiedliche Fachfunktionen, vergleichbare Herausforderungen 

Aus einer externen Perspektive fällt auf, dass diese Klagen weitgehend unabhängig davon zu hören sind, um welche Fachdisziplin es sich handelt. Es ist egal, ob wir es mit Expertenfunktionen für Veränderung, Nachhaltigkeit, Innovation, Lernen, Qualität, Zuverlässigkeit, Sicherheit oder Compliance zu tun haben – die beschriebenen Herausforderungen, Spannungen und Muster dieser inhaltlich hochspezialisierten Bereiche verweisen offenbar auf ähnliche strukturelle Entstehungsbedingungen.

Strukturellen Entstehungsbedingungen anders begegnen – die systemtheoretische Perspektive hilft

Ein systemischer Blick auf die Funktion von Expertenberatung und ihrer Kopplung in der Organisation wirft die Frage auf: Was sind tiefer liegende Spannungsfelder und Paradoxien, mit denen interne Fachfunktionen im Alltag kämpfen und für die sie geeignete Bewältigungsformen (er-) finden müssen?

Beispiel Produktionsunternehmen

Ein Beispiel soll helfen, uns dieser Frage zu nähern: Weil in einem Produktionsunternehmen das Geschäft gerade gut läuft, soll so viel und durchgehend wie möglich produziert werden. Gleichzeitig sollen die Produktionskapazitäten weiter ausgebaut werden. Doch der einseitige Fokus des Managements auf kurzfristige Produktionssteigerung zeigt ungewollte Nebeneffekte: Mitarbeitende stehen unter hohem Druck und erleben die Arbeitsbedingungen als belastend. Es kommt immer häufiger zu Fehlleistungen, was sich negativ auf die Produktions-, Qualitäts- sowie Sicherheitskennzahlen auswirkt. Krankmeldungen und Unzufriedenheitssignale nehmen zu, die Fluktuation steigt. Unerfahrene Mitarbeitende müssen kurzfristig anspruchsvolle Tätigkeiten ausführen. Die Führungskräfte sind mit situativen Problemlösungen und „fire fighting“ ausgelastet, Zeiträume und Rituale für Führungsarbeit oder Fragen der organisationalen Weiterentwicklung entfallen. Der sich verschlechternde Zustand des Bereichs ruft einzelne Fachexperten auf den Plan, um das Management in der akuten Problemlösung zu beraten: HR-Experten für Rekrutierung und Mitarbeiterbindung, Qualitäts- und Prozessexperten und natürlich auch die Experten für Arbeitssicherheit. 

Kernparadoxie 1: Gegenwart vs. Zukunft bzw. reaktives vs. proaktives Handeln

Das Beispiel zeigt: Eine zentrale Herausforderung für Fachfunktionen besteht darin, dass nachhaltige Maßnahmen für eine längerfristige Zukunftssicherung immer Zeit benötigen, die auf den ersten Blick nicht als wertschöpfend wahrgenommen wird. Doch angesichts der hohen Produktionserwartungen fällt es dem Management nicht nur in unserem Beispiel schwer, vom Gas zu gehen, um in die notwendige Systempflege zu investieren. So werden Probleme eher spät und reaktiv nach deutlichen Symptomen angegangen und die Investments in Zukunftsfragen so lange vermieden, wie es geht. 

In unserem Beispiel wird die Personalfluktuation kurzfristig durch Neueinstellungen kompensiert. Für die Bearbeitung der tieferliegenden Wurzeln einer unzureichenden Personalbindung gibt es keine Zeit und die dafür zuständige HR-Fachfunktion findet kein Gehör (z.B. unattraktive Arbeitsbedingungen, Sinnstiftungsangebote etc.). Auch die Sicherheitsfragen rücken erst in den Fokus, nachdem der Bereich als Unfallschwerpunkt auch nach außen hin auffällig wird. Jetzt wird der Ruf nach schnellen Lösungen laut, jedoch unter der Prämisse, die Produktion unbeeinträchtigt aufrechtzuerhalten. Das Muster wird erkennbar, kurzfristig viel Wirbel zu machen, die Energie aber nicht zu halten: Man fällt wieder in den unveränderten Alltagsmodus zurück. Ähnliche reaktive Oszillationsmuster zeigen sich im Innovationsmanagement: Solange die Cash Cows der Vergangenheit funktionieren, konzentriert man sich auf diese und Innovationsexpert:innen finden wenig Gehör mit ihren Impulsen.. Erst wenn nicht mehr die gewohnten Ergebnisse erzielt werden und ungeahnte Wettbewerber mit innovativen Geschäftsmodellen angreifen, wird man wach…

Wird diese Dynamik über längere Zeiträume dem Driften überlassen, können sich die Muster eines rein gegenwartsorientierten Feuerlöschens verfestigen und Blicke über den Tellerrand werden unwahrscheinlicher. Ohne intensive Reflexion dieser Form der Paradoxiebearbeitung werden die Fachbereiche schnell zum Spielball dieses Musters. Sie fügen sich dem engen Zeitkorsett, agieren als geflissentlicher Dienstleister oder werden zum ungehörten, belächelten und bald zynischem Missionar mit eingeschränkter Wirksamkeit. Persönliche Konflikte und Anfeindungen zwischen den Spielern sind in diesen Konstellationen keine Seltenheit. 

Ein Ausweg für Expert:innen besteht darin, sich selbst die Bedingungen der eigenen Wirksamkeit gezielt zu erarbeiten und sich gemeinsam mit dem Management über die zugrunde liegenden widersprüchlichen Anforderungen klar zu werden. Wie sieht ein „Sowohl-als-Auch“ von längerfristiger Zukunftssicherung und kurzfristigen Effizienznotwendigkeiten aus? Wie können wir Fachfunktionen uns mit dem Management so organisieren, dass wir eine gute Balance finden und anpassen?  

Kernparadoxie 2: Abgrenzung/Differenzierung vs. Anschluss/Kooperation

Eine zweite Paradoxie besteht darin, dass Expertenfunktionen sich einerseits vom operativen Geschäft und von anderen Expertenfunktionen hinreichend theoretisch, methodisch und auch sprachlich differenzieren müssen. Als Querschnittsfunktionen müssen sie im wörtlichen Sinne „quer“ zur Organisationslogik und -kultur stehen. Erst durch diese „Entfremdung“ können Fachfunktionen als Impulsgeber für das Ausgeblendete einen Mehrwert bringen. Auf der anderen Seite bleiben die Fachfunktionen nur über ihre Anschlussfähigkeit im Spiel. Wie in allen Beratungsfunktionen gilt hier das Prinzip der anschlussfähigen Irritation, dessen Gelingen natürlich vom Gegenüber beurteilt wird.

Überlässt man diese Balancierung ohne weitere Beachtung und Prüfung dem bloßen Driften, können sich Expertenfunktionen von den operativen Bereichen zu weit entfernen. Experten erscheinen dem operativen Geschäft dann als weltfremd, selbstverliebt in ihr Fach oder zu dogmatisch.

Aktive Gestaltung der zugrunde liegenden Paradoxien

Unsere Ausführungen zeigen, dass Fachfunktionen die zugrunde liegenden strukturellen Herausforderungen gut im Blick haben und gezielt gestalten müssen. Überlassen sie die Bearbeitung der oben beschriebenen Paradoxien dem Driften, so ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sich Kooperationsmuster in der Zusammenarbeit mit den operativen Geschäftsbereichen als auch mit den anderen Fachfunktionen entwickeln, die die Wirkung von Fachexpertise in der Organisation schwächen.

 

(1) Kooperationsmuster mit den operativen Bereichen 

Wie kann nun die Gestaltung der Zusammenarbeit der Facheinheiten mit den operativen Einheiten gelingen? Und dies, obwohl sie als beratende Funktion natürlich immer auf die Entscheidungen und die Verantwortungsübernahme des Managements angewiesen sind. Mit anderen Worten: Ihr Wissen trifft auf Macht. 

Diese Schnittstelle ist ein sensibler Punkt und muss sorgsam gestaltet werden: Wie sehen Formate aus, wie wir inhaltlich zu guten Lösungen kommen und verschiedene Perspektiven berücksichtigen (Sachdimension), welche Beziehungen im sozialen Miteinander brauchen wir, um offen mit Unterschieden, anderen Meinungen, Interessen und widersprüchlichen Anforderungen umzugehen und diese nicht in der persönlichen Beziehung auszuleben (Sozialdimension)? Und wann sind günstige (wiederkehrende) Zeitpunkte für zukunftsorientierte Fachfragen? Statt loszulegen und sich auf ihre inhaltlichen Fragestellungen zu konzentrieren, müssen Fachbereiche die Form und den Prozess der Entscheidungsfindung mit dem Management explizit reflektieren, entscheiden und vereinbaren. In welchen Situationen brauchen wir zum Beispiel einen suchend und partizipativ gestalten Prozess (auch bei Letztentscheidung der Hierarchie)? In welchen Situationen kann dagegen eine klare Auftraggeber-Dienstleisterbeziehung angemessen sein?

(2) Moderation des Zusammenspiels der Fachfunktionen

Neben der Frage der vertikalen Kopplung zeigt sich auf der horizontalen Ebene eine weitere. Wie also sehen geeignete Formen der Kopplung zwischen den Fachfunktionen aus?

Unser Beispiel legt nahe, dass viele wichtige Problemlagen in Organisationen nur durch eine gut orchestrierte Kooperation der beteiligten Fachfunktionen untereinander bzw. einen gut moderierten Prozess angemessen zu bearbeiten ist, der die unterschiedlichen Perspektiven im konkreten Einzelfall auf geeignete Art und Weise zusammenbringt. Beispielsweise braucht es für nachhaltige Veränderungen in der Sicherheitsarbeit ein intelligentes Zusammenspiel von Management, Sicherheitsexperten, Personal- und Organisationsentwicklung, Einkauf, Instandhaltung, Fremdfirmen etc. Die inhaltliche Differenzierungsnotwendigkeit der einzelnen Fachfunktionen auf ihr Spezialgebiet lässt tendenziell das große Ganze und Kooperationsnotwendigkeiten aus dem Blick geraten. Zudem ist funktionale Differenzierung ein Mechanismus der Komplexitätsreduktion und Identitätsstiftung – man scheut die unweigerlich entstehende Komplexität, wenn man andere Fachfunktionen mit einbezieht. 

Hier stellt sich die Frage wie die notwendige „heterarchische“, netzwerkartige Kooperation gelingen kann. Wie sehen zum Beispiel sinnvolle Formate und eine Moderation aus, um gleichberechtigte Fachperspektiven zusammenzubringen, wenn es erforderlich ist?  Erfahrungen von erfolgreichen Mustern der Krisenbewältigung und – prävention in Organisationen liefern hier wertvolle Beispiele und Anregungen für diese Gestaltungsfragen (z.B. die Prinzipien eines high reliability organizings). Ein erster Schritt der Bearbeitung dieser Aspekte kann ein gemeinsamer Blick auf die existierenden Muster sein, die sich im Zusammenspiel zwischen (1) Fachfunktionen und operativen Geschäftseinheiten sowie zwischen (2) den Fachbereichen untereinander eingespielt haben. Folgende Fragen können erste Anregungen für diese Musterbeobachtung liefern:

Sachlich-formale Aspekte:

Wie sind Aufgaben und Verantwortung der jeweiligen Expertenfunktion definiert?

Wie unterscheiden sich formale Beschreibungen von informaler Praxis?

Welche kritischen Spannungsfelder und Unvereinbarkeiten (Kernparadoxien) bilden sich ab? Welche ungenutzten Potentiale sind erkennbar?

Aspekte der sozialen Beziehungsgestaltung:

Wie lässt sich die Beziehung zwischen Management und Expertenfunktionen beschreiben?

Wie kooperieren verschiedene Expertenfunktionen in der Bearbeitung existentieller Fragen (Risiko, Compliance, Sicherheit…) der Organisation?

Wie und durch wen werden Interessenunterschiede oder Konflikte geregelt?

Zeitliche Aspekte:

Welche Geschichten, Erfahrungen und Zuschreibungen prägen die aktuelle Rolle der Expertenfunktion?

Welche Bedeutung haben die Expertenfunktionen bzgl. Zukunft und Strategie?

Wann werden die Expertenfunktionen aktiviert (präventiv, reaktiv, einzeln, gemeinsam, moderiert..?) 

Lust auf mehr?
Im 2-moduligen Seminar „Systemische Fachexpertise“ laden wir zu einer vertieften Musterbeobachtung ein. Gemeinsam mit Expert:innen verschiedener Fachbereiche werden wir mit Hilfe eines systemtheoretischen Organisationsverständnisses die hier skizzierten Spannungsfelder für Expertenfunktionen ergründen, gemeinsam typische Muster analysieren und an Fällen erarbeiten, mögliche Entwicklungsoptionen für Expertenfunktionen erkunden, um ihre eigenen Bedingungen zu gestalten und ihren Einfluss zu verbessern.