von Timm Richter, Torsten Groth
In unserem Online-Seminar „Wirksam führen“ hatten wir letzte Woche eine engagierte Diskussion zu der Frage, wie man (Führungs-) Verantwortung delegieren und in Teams verteilen kann. Dies ist besonders dann virulent, wenn eine bestehende Rollen- und Aufgabenverteilung geändert werden soll. In heutiger Zeit heißt dies meistens, dass Mitarbeiter:innen „empowert“ werden, dass Teams mehr Verantwortung gegeben oder auch in ihnen selbstorganisierter entschieden werden soll. Bei solchen Umstellungen kommt es oft zu überraschenden Effekten: Teams oder Rolleninhaber (z.B. Produkt Owner oder Scrum Master in agilen Teams) nehmen sich mehr Verantwortung als Führungskräfte ihnen zugestehen wollen. Oder umgekehrt passiert es, dass weitreichendere Entscheidungen gar nicht getroffen werden, also Teams keine Verantwortung übernehmen (obgleich sie deutlich dazu ermuntert wurden bzw. sie selbst den Anspruch auf eigenes Entscheiden erheben). Wie kann man sich solche Effekte erklären?
Für ein besseres Verständnis dieser Dynamiken bietet es sich an, die Unterscheidung von Verantwortung und Verantwortlichkeit zu nutzen. Niklas Luhmann hat darauf hingewiesen, dass diese beiden Begriffe oft synonym verwendet werden, nämlich in dem Sinne, dass man zur Verantwortung gezogen werden kann. Man merkt dies auch im Alltag, in dem Verantwortungsübernahme gefordert wird, ohne dass deutlich wird, was konkret gemeint ist.
Verantwortlichkeit als Rechenschaftspflicht
Luhmann schlägt eine strikte Trennung beider Begrifflichkeiten vor. Verantwortlichkeit reserviert er für Fälle, in denen es eine Art rechtlicher und/oder moralischer Rechenschaftspflicht gibt. In solchen Fällen gibt es Normen, gegen die verstoßen werden kann. Wenn dies passiert, kann man fragen, wer dafür für verantwortlich ist oder auch gemacht wird, d.h. wer mit Konsequenzen bzw. Sanktionen zu rechnen hat (eben rechenschaftspflichtig ist). Etwas ausführlicher: Das Prinzip der Verantwortlichkeit ist sehr präsent in der Rechtsprechung und macht sich an der Frage fest: wer ist Schuld? Aber auch in Organisationen gibt es ein weites Feld an Verantwortlichkeiten, in dem formal geregelt ist, wer für Entscheidungen und deren Folgen einzustehen hat. Zumeist geschieht dies über Rollen oder Stellen mit entsprechenden (Entscheidungs-) Befugnissen. Verantwortlichkeit gibt es darüber hinaus eben auch informell, über Werte, Moral und Ethik. Wenn jemand gegen gesellschaftliche oder kulturelle Normen (auch in Organisationen) verstößt, so kann diese Person trotz fehlender formaler Möglichkeiten dafür verantwortlich gemacht und entsprechend sanktioniert werden, z.B. durch (soziale) Ächtung oder Missbilligung. In allen Fällen gilt: es findet ein sozialer Prozess der Zuschreibung von Verantwortlichkeit statt, der sich an den Folgen von Entscheidungen ausrichtet.
Verantwortung als Risikoübernahme bei Entscheidungen
Dem Begriff der Verantwortung hingegen gibt Luhmann eine andere Bedeutung. Hier geht es zeitlich um den Prozess des Entscheidens. Luhmann stellt fest, dass in Entscheidungssituationen die Informationen nicht ausreichend sind, um zweifelsfrei zu wissen, was am besten zu tun ist – vor allem, weil die Zukunft ja immer ungewiss ist. Und genau deswegen muss entschieden werden, damit es weiter gehen kann. Anders gesagt: Im Entscheiden muss (fehlende) Information „ersetzt“ werden, es wird also so getan, als wisse man mehr. In diesem Sinne ist eine Entscheidung äquivalent zu Information, indem sie Informationen ersetzt, die man eben nicht hat. Und genau diese Leistung der Absorption von Unsicherheit von Entscheidungen nennt Luhmann Verantwortung. In seinen Worten ist ein
Verhalten, das Bruchstücke zusammenfügt und interpretiert, Annahmen in Tatsachen verwandelt und Hoffnungen in Voraussagen, […] in einem elementaren Sinne verantwortungsvoll.
Niklas Luhmann (1964): Funktionen und Folgen formaler Organisation. Berlin (Duncker & Humblot) 1999, S. 173
Den Beitrag einer Entscheidung zur Unsicherheitsabsorption kann man als ihre Verantwortung bezeichnen. […] Verantwortung wäre der Informationswert einer Entscheidung.
Niklas Luhmann (2000): Organisation und Entscheidung. Wiesbaden (VS Verlag für Sozialwissenschaften) 2006, S. 197
Wenn also entschieden wird, wird im Sinne Luhmanns Verantwortung übernommen. Was auch heißt, es wird ein Risiko eingegangen, da man nicht alle Informationen zur Verfügung hat. Deutlich wird, dass wir sozial und zeitlich zwei unterschiedliche Prozesse anschauen können. Verantwortlichkeit richtig sich auf die Frage, wer wie für die Folgen einer Entscheidung einzustehen hat, und Verantwortung, wer wie in der Entscheidungen Risiken übernimmt. Das bedeutet übrigens auch, dass man andere nicht zwingen kann, Verantwortung zu übernehmen, da man sie nicht zu Entscheidungen zwingen kann. Verantwortung findet also freiwillig statt.
Einige Praxisbeispiele
Mit dieser Unterscheidung Verantwortung/ Verantwortlichkeit werden viele bei der Delegation / dem Empowerment von Teams und Mitarbeitenden auftretenden Phänomene besser verständlich. Dazu Beispiele aus unserer Praxis:
1) Wenn Führungskräfte Verantwortung z.B. an ein Team delegieren, aber weiterhin für die Ergebnisse verantwortlich gemacht werden, ist die – man könnte, sagen – „halbe“ Delegation mit Risiko für die Führungskräfte verbunden. Es entsteht ein Double bind: man gibt Verantwortung ab und bleibt zugleich (beim Überschreiten gewisser Grenzen) verantwortlich. Zuweilen erlebt man, dass Teams eigenständig entscheiden sollen, aber wenn sie es tun, werden die zu weit gehenden Entscheidungen wieder einkassiert. Oder es finden außerhalb der formell installierten „eigeständigen“ Entscheidungszirkel noch informelle Abstimmungsrunden mit den Leitungspersonen statt, mit denjenigen, die verantwortlich (i.S. Verantwortlichkeit) gemacht werden können, was wiederum Widerstand innerhalb der Zirkel hervorruft.
2) Aber auch die „volle“ Delegation will gut überlegt sein. Es kann dazu führen, dass a) zu wenig oder b) zuviel entschieden wird:
2a) Wird mit der Verantwortung zugleich auch die Verantwortlichkeit übergeben – was bei Teams sicherlich schwieriger ist als bei Einzelpersonen – kann es passieren, dass die Verantwortung vom Team nicht wahrgenommen wird (im Sinne des Treffens riskanter, unternehmerischer Entscheidungen). Auch diese Phänomene sind bekannt: Da die Verantwortlichkeit gefürchtet wird, trifft ein Team entweder keine Entscheidungen, oder nur Konsensentscheidungen oder nur „ungefährliche“ Entscheidungen, bzw. delegiert weitreichende Entscheidungen an eine noch vorhanden formelle Führung zurück. Mit der Folge, dass diese Führungsebene dann überlastet wird mit Entscheidungen, und zugleich zur Erkenntnis kommt, dass die doch eigentlich zuständigen, neu installierten Gremien nicht funktionieren.
2b) Nimmt hingegen ein Team die Verantwortung wahr und trifft weitreichende Entscheidungen, kann auch dies zu Problemen führen. Aus Sicht der Führung werden die Grenzen der (delegierten) Verantwortlichkeit überschritten: Ein Team maßt sich an, generelle Regeln zu erlassen, die weit über den Zuständigkeitsbereich hinausgehen, so dass es zu Konflikten mit anderen Einheiten kommt. Auch hier deutet sich ein Double-bind an: Es ist richtig und wird eingefordert, eigenständig, weitreichende Entscheidungen zu treffen, und es ist falsch, weitreichende Entscheidungen zu treffen. Unklare Verantwortlichkeit kann – je nach Organisationskultur – dazu führen, dass Teams aktiv Grenzen austesten, also sehr entscheidungsfreudig sind, und es zu Konflikten über Zuständigkeiten kommt (oder aber aus Angst vor Grenzüberschreitungen lieber nichts entscheiden).
Es lohnt sich also, beim Delegieren und Empowerment von Teams (und Mitarbeitenden) die Balance und Grenzen von Verantwortung und Verantwortlichkeit zwischen Führung und Team gemeinsam zu besprechen. Heißt: Welche Verantwortung und Verantwortlichkeit sind Teams bereit und in der Lage zu übernehmen, und welche Verantwortung und Verantwortlichkeit sind Führungskräfte bereit und in der Lage abzugeben?