von Timm Richter
Viele Dinge im Alltag nehmen wir wie selbstverständlich als gegeben an, obwohl sie höchst voraussetzungsvoll sind. So ist es auch mit der Zeit, bzw. mit der Koordination von Zeit, wie ein tolles Portrait über David Mills im New Yorker beschreibt. Wahrscheinlich kennt niemand David Mills, aber er hat ein Programm geschrieben, das die Synchronisation der Zeit zwischen Computern über das Internet ermöglicht. Seine Geschichte illustriert viele Aspekte, wie in sozialen Kontext „Halt im Haltlosen“ – das Thema unseres 9. SWF Forums 2023 – entsteht:
- Ein zufälliger Start, in dem irgendeiner einfach mal anfängt …
- Nützlichkeit, die sich im Alltag bewährt und durchsetzt …
- (in diesem Fall auch) Hierarchie zur Realisierung von Skalierung …
- Am Leben gehalten wird alles durch Überzeugungstäter, die sich als Gruppe informell organisieren mit starker informeller Macht
Insgesamt zeigt sich ein Muster, das der klassischen Evolution entspricht: Variation – Selektion – Retention, mit den genannten Zusatzfaktoren. Auch mit in der Geschichte enthalten ist die Bedrohung von offenen Standards durch Mitspieler (Google), die nach eigenen Spielregeln spielen (wollen), und die Frage danach, wie man Common Goods (z.B. eben offene Standards) gegen Partikularinteressen verteidigen kann. – Adriana Groh hatte auf unserem letzten, dem 8. SWF Forum, darauf hingewiesen, wie fragil und unreguliert die Basis-Dienste unserer Internet-Infrastruktur sind, auf die wir uns jeden Tag verlassen. Die Geschichte von David Mills Network Time Protokoll ist dafür ein sehr anschauliches Beispiel.
Als passende Ergänzung empfiehlt sich der Abschnitt 6 – Verbreitung der Zeit für die Gesellschaft – eines Papiers der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt über die Zeitmessung in Deutschland.
Unsere Zeit ist sozial konstruiert, sogar gesetzlich verordnet. Und die führende Zeit, mit der Computer über das Network Time Protocol (NTP) von David Mills synchronisiert werden, wird über die Zusammenarbeit von 70 offiziellen Zeitmessungsinstituten organisiert. Spannend zu überlegen, was alles nicht mehr funktionieren würde, wenn es das alles nicht gäbe: Flugpläne, Eisenbahnnetze, Lieferketten, Stromnetze, Geldüberweisungen, …