Selbstorganisation als Selbstfesselung – und wie sich das vermeiden lässt

von Timm Richter, Stefan Günther, Torsten Groth //

Im Kontext aktueller Veränderungsprozesse, die man unter „New Organizing“[1] fassen kann, streben viele Unternehmen nach einem höheren Maß an „Selbstorganisation“. Mit diesem Schritt verbinden sie vielfältige Verbesserungen, z.B. schnellere Entscheidungen, größere Kundennähe und auch höhere Mitarbeiterzufriedenheit. Im folgenden Beitrag wird gezeigt, warum Anspruch und Wirklichkeit auseinanderfallen können. Dass in der Praxis eine solche Diskrepanz auftritt, liegt u.E. darin begründet, dass in vielen neueren Ansätzen sowohl konzeptionell wie auch in der praktischen Umsetzung organisationale Grundfragen nicht angemessen behandelt werden.

In der allgemeinen Diskussion wird unter Selbstorganisation der möglichst weitgehende Verzicht auf formal hierarchische Strukturen verstanden. Sehr zugespitzt kann man diese Auffassung einer primär horizontal ausgerichteten Organisationsform so formulieren: 

Selbstorganisation ist die Idee, dass alle (Mitarbeitende, Teams) eigenverantwortlich und kompetenzbasiert arbeiten / entscheiden und dass gleichzeitig Themen mit Betroffenen bzw. Repräsentanten der betroffenen Einheiten auf Augenhöhe geklärt werden.

Typische Fallstricke bei der Einführung von Prinzipien der Selbstorganisation

Bei der Einführung von Selbstorganisationsansätzen zeigt sich in unseren Beratungs- und Forschungserfahrungen oft folgendes Bild: Unternehmen verschreiben sich normativ einem neuen Ansatz, halten diesen für den einzig richtigen Weg, führen sehr formell hierarchiefreie Entscheidungs- und Kommunikationsformate ein und sehen es als einen hohen Wert an, dass möglichst alle angemessen beteiligt werden. Kurz gesagt könnte man auch sagen, sie ringen um:

  • Normativität
  • Formalität
  • Beteiligung

In der Praxis zeigt sich, dass es trotz (erster) Erfolge nach einiger Zeit zu Enttäuschungen kommt. Eine unserer Thesen ist, dass sich Unternehmen leicht in diesen Prämissen verfangen. Vor allem übersehen sie, dass es noch jeweils eine andere Seite gibt, die jedoch nicht angemessen beachtet wird. 

  • Normativität vs. Nützlichkeit
  • Formalität vs. Informalität
  • Beteiligung vs. Delegation

In der von uns beobachteten Praxis der Selbstorganisation wird von diesen drei Leitunterscheidungen jeweils die erstgenannte Seite besonders stark betont. So setzt man sich dem Risiko aus, in Fallen zu tappen. Wenn hier von zwei Seiten gesprochen wird, liegt dem die systemtheoretisch begründete These zu Grunde, dass Organisationen immer Antagonismen balancieren müssen. 

Die Erfolgsfalle. Organisationen möchten mit Selbstorganisation ihre eigene Leistungsfähigkeit steigern. Und gerade wenn man damit am Anfang Erfolg hat, besteht ein großes Risiko, Selbstorganisation als generelles Gestaltungsprinzip zu überhöhen. Plötzlich ist sie die Lösung für alle Probleme, wird folglich normativ gesetzt und so behandelt, als sei sie aus Prinzip allen früheren Formen des Organisierens überlegen. Damit wird Selbstorganisation zu einem Selbstzweck und man vergisst, dass sie nur ein Mittel ist, um den Zweck Leistungsfähigkeit zu erfüllen. Die relevante Leitunterscheidung ist hier Normativität vs. Nützlichkeit. Das normative Bekenntnis zu einer Idee kann an vielen Stellen helfen, so auch bei Selbstorganisation: die Motivation und Identifikation der Mitarbeitenden wird erhöht, im operativen Tun gelingt die Abstimmung mit Kunden besser oder die Arbeitgeberattraktivität steigt. Wer allerdings Selbstorganisation bedingungslos setzt, nimmt sich Handlungschancen. Eine Organisation sollte immer in der Lage sein, jede normative Setzung auf ihre Nützlichkeit zu prüfen und ggf. zu ändern. Glaubenssysteme tendieren dazu, auch bei Zweifel oder Misserfolg die Erklärung darin zu finden, dass der Glaube weitere Festigkeit erfordere, bis sich Erfolg einstellen kann. Denn wie wir noch sehen werden, ist Selbstorganisation eben nicht die Antwort auf alle Fragen des Organisierens.

Die Symmetriefalle. Oft zeigt sich eine starke, fast schon „allergische“ Reaktion auf hierarchische Eingriffe bei der Einführung von Selbstorganisation. Wer auf Eigenverantwortung von Mitarbeitenden und Teams setzt, glaubt Hierarchie ablehnen zu müssen. Dieser Glaube verführt Geführte dazu, Eingriffe von oben empört als nicht mehr zeitgemäß von sich zu weisen und verunsichert auch Vorgesetzte darin, ihre ggf. noch vorhandene Machtposition bewusst und reflektiert einzusetzen. Eine hilfreiche Leitunterscheidung ist in diesem Kontext die zwischen Formalität und Informalität. Der Verzicht auf formale Hierarchie in Entscheidungsprozessen sorgt nicht nur für die genannten Vorteile, sondern im negativen Fall auch dafür, dass entweder nicht entschieden wird oder aber informelle Entscheidungsprozesse greifen, die dann nicht mehr gestaltet werden können, eben weil sie informell-diffus wirken. Die Hierarchie verschwindet formal und wird informell; sie geht „in den Untergrund“. Über diese Konsequenz sollten man sich im Klaren sein, wenn man Hierarchie meint abschaffen zu können. Wenn sich die Geschäftsführung zu großen Teilen formal aus dem Spiel nimmt, was im Sinne der Selbstorganisation von allen begrüßt wird, kann man damit rechnen, dass man versucht, die Geschäftsführung informell wieder ins Spiel zu bringen bzw. im Spiel zu halten. Das ist dann ungleich schwieriger als offen mit Hierarchie umzugehen. 

Der häufiger genannte Hinweis, dass bei Selbstorganisation anstatt über Hierarchie mit festen Entscheidungsprogrammen gearbeitet wird, greift insofern zu kurz, da man dann fragen muss, wer entschieden hat, dass diese Entscheidungsprozesse (für die Organisation) bindend sind. Dies weist auf die Ironie hin, die vielen Selbstorganisationsbemühungen zugrunde liegt, denn oft wird Selbstorganisation per Anordnung eingeführt, mindestens aber geduldet. Oder anders gesagt zeigt dies, dass in Selbstorganisation oft mehr formale Hierarchie steckt als man sich selbst zugestehen möchte. Wir werden weiter unten dafür plädieren, positive Aspekte von Hierarchie zu akzeptieren und diese bewusst und differenziert zu nutzen. Die erfolgreiche Einführung von Selbstorganisation setzt allerdings voraus, dass sich Hierarchie bewusst und selbstreflektiert mit ihrer neuen Rolle und Funktion auseinandersetzt.

Die Erschöpfungsfalle. Die Vorstellung, dass man immer alles mit möglichst vielen Betroffenen auf Augenhöhe besprechen muss, stößt sehr schnell auf ganz praktische Grenzen. Wenn die Anzahl der Interaktionsteilnehmer:innen steigt, nimmt der Abstimmungsbedarf überproportional zu. Dies führt zur Überforderung und dann notgedrungen zum Rückzug auf die Aufgaben, für die man primär verantwortlich ist. Bei diesem Punkt geht es um eine vernünftige Balancierung von (wünschenswerter) Beteiligung und (notwendiger) Vertretung. Vertretung bedeutet dann im Übrigen auch, dass Vertreter das Mandat haben zu entscheiden, d.h. es entstehen hierarchische Unterschiede.


Wenn man Selbstorganisation einführt, dann möchte man Steuerung primär Bottom-up aufbauen. Das ist insofern problematisch, als dass Vertreter:innen einer (notwendigen) Partikularsicht zusätzlich zu ihrer primären Arbeit zugemutet wird, Aushandlungen mit einer Sicht auf die gesamte Organisation durchzuführen. Diese paradoxe Anforderung verlangt den Beteiligten eine sehr hohe Ambiguitätstoleranz ab. Demgegenüber entlastet ein Top-Down Ansatz, der (nur) die Geschäftsführung damit beauftragt, die strategische Integrationsleistung über Partikularsichten von operativen Einheiten hinweg leisten zu können.

Jede Organisation braucht formales Organisieren und Führung

Man bekommt einen noch besseren Blick auf die Gemeinsamkeiten der auftretenden Fallstricke bei der Einführung von Prinzipien der Selbstorganisation, wenn man einen weiteren Schritt zurücktritt. Selbstorganisation wird im allgemeinen Sprachgebrauch (systemtheoretisch ist das anders) abgegrenzt von Fremdorganisation, die als hierarchische Führung verstanden wird. Dieses Alltagsverständnis, das wir auch in vielen neueren Organisationsansätzen finden, ist doppelt problematisch.

Zum einen ist der Selbst- und Fremdorganisation bereits in ihrer Bezeichnung das „Organisieren“ gemein, also das, was sich in Organisationen vollzieht. Organisationen unterscheiden sich von anderen Kooperationsformen, z.B. Netzwerken, dadurch, dass ihre Elemente fester gekoppelt sind. Fester gekoppelt heißt, dass stärker über formale, also entscheidbare Aspekte festgelegt wird, was als Entscheidung dieser Organisation zu gelten hat. Diese Formalität wird erreicht über die Mitgliedschaft (in Teams, Organisationseinheiten, der Organisation), festgeschriebene Regeln und formale Hierarchie (wer kann was bindend für die Organisation entscheiden) mit entsprechenden Sanktionsmöglichkeiten. Ohne eine solche Formalität, also ohne Festlegungen, mithin also ohne Fremdorganisation von Teileinheiten keine Organisation, könnte man kurz und knapp sagen – selbst wenn man das, was sich dann vollzieht, „Selbstorganisation“ nennt und alle Regeln nach diesem Prinzip gestaltet. Fremdorganisation wird zur Bedingung der Möglichkeit von (mehr oder weniger) Selbstorganisation der Teileinheiten.

So gesehen gibt es kein Schwarz-Weiß. Das Bestreben, formale Aspekte zugunsten eines flexibleren, informelleren Vorgehens zu beschränken, kann durchaus sinnvoll sein und führt in vielen Fällen zu besseren und akzeptierteren Entscheidungen. Nur darf man nicht den Fehler machen, Selbst- und Fremdorganisation eindimensional zu betrachten. Immer bleibt in Organisationen ein Mindestmaß an formaler Organisation übrig. Auch wenn man Entscheidungskompetenz delegiert hat, hat eine Geschäftsführung immer – allein qua Recht – formale Letztentscheidungskompetenz, auch wenn sie diese nicht offensiv nutzt. Wenn es also auch bei Selbstorganisation immer um formale Aspekte und Hierarchien geht, dann sollte man gezielt überlegen, in welchem Maße und für welche Fälle man eine formale Hierarchie zur Steigerung der Leistungsfähigkeit einer (Selbst-)Organisation als sinnvolle und notwendige Instanz nutzen möchte.

Zum anderen bedeutet die formal hierarchisch (!) entschiedene Einschränkung von formalen Entscheidungsbefugnissen von Führungskräften keineswegs, dass man dadurch auf Führung verzichtet. Führung ist die Leistung einer Organisation, immer wieder angemessen auf sich ändernde Umweltbedingungen zu reagieren. Dafür muss eine Organisation in der Lage sein, kontinuierlich die Führungsschleife zu durchlaufen, d.h.: (a) in der Außensicht reflektieren, ob es Veränderungsbedarf gibt, (b) dies dann entscheiden und (c) schließlich umsetzen. Organisationen brauchen dafür Reflexionsfähigkeit, Entscheidungsfähigkeit und Handlungsfähigkeit. Diese Fähigkeiten müssen je nach konkreter Fragestellung in ihrer Gewichtung unterschiedlich konfiguiert werden, um die Überlebensfähigkeit der Organisation sicherstellen zu können.   Hierarchische Fremdorganisation kann helfen, diese Fähigkeiten zu gewährleisten. Je mehr bei Selbstorganisation auf formale Aspekte verzichtet wird, umso mehr müssen diese Fähigkeiten auf andere Weise bereitgestellt werden. Selbstorganisation lähmt sich vor allem dann selbst, wenn Entscheidungen in den selbst geschaffenen Strukturen nicht in angemessenem Rahmen herbeigeführt werden können.

In der „Erfolgsfalle“ hält man an anfänglichen Erfolgen der Einführung von Selbstorganisation fest, überhöht den Nutzen von Selbstorganisation und verhindert pragmatisch gute Lösungen, die nicht diesem normativ überhöhten Anspruch genügen.

In der „Symmetriefalle“ überfordert sich eine Organisationseinheit, indem sie das Prinzip der Gleichheit (Stichwort: „Hierarchieallergie“) überhöht und funktional wichtige Eingriffe nicht zulässt bzw. ins Informelle verschiebt.

Die „Erschöpfungsfalle“ ergibt sich quasi aus den ersten beiden Entwicklungen. Wenn alle möglichst an allen wichtigen Entscheidungen beteiligt sein wollen, kommt es zwangsläufig zu zeitlichen Überlastungen, denn neben der Arbeit in den Gremien warten noch die Arbeit am Kunden und im eigenen Zuständigkeitsbereich. 

Ein aufgeklärter Umgang mit Selbstorganisation als Alternative

Zusammenfassend lässt sich festhalten: In vielen Fällen kann die Einführung von Prinzipien der Selbstorganisation helfen, die Leistungsfähigkeit von Organisationen zu stärken. Dabei gilt es, stets die Führungsfähigkeit sicherzustellen und einen angemessenen Grad an formaler Organisation beizubehalten oder diese auch neu zu gestalten. Besonders vor dem Hintergrund einer in vielen Konzernen oft als wenig nachvollziehbar oder an eigenen Zielen orientiert wahrgenommenen Hierarchie ist diese Frage schnell emotional aufgeladen.

Uns erscheinen dabei folgende Gebote als besonders wertvoll:

  • Orientiere dich stets an der Nützlichkeit von Selbstorganisation und erhebe sie nicht zum Selbstzweck. Führe Selbstorganisation schrittweise und empirisch begleitend ein. 
  • Betrachte Fremdorganisation nicht als Gegensatz von Selbstorganisation, sondern frage dich, welche Aspekte ggf. sogar stärker fremdorganisiert werden müssen, so dass Selbstorganisation gestärkt wird.
  • Nutze Hierarchie souverän, offiziell und transparent. Das gelingt insbesondere dann gut, wenn in Bezug auf Entscheidungen Grenzen und Erwartungen klar kommuniziert werden. Die Funktion der Hierarchie sollte man sich vor allem für Ausnahmesituationen bewahren, d.h. wenn schnell entschieden werden muss, wenn relevante Aspekte ausgeblendet bleiben, man in einer Entscheidungssackgasse feststeckt oder eine Letztentscheidung notwendig ist.
  • Gestalte bewusst die Balance von Beteiligung und Vertretung. Es hilft, wenn Mitarbeitende klare und primäre Mandate haben. Teams und Gremien sollten so eingesetzt werden, dass sie aufgrund ihrer Größe arbeitsfähig sind und auch verbindliche Entscheidungen treffen können. Und wir können in Entscheidungsprozessen zwischen Ideengenerierung, Resonanz und Entscheidung unterscheiden und für jede Phase andere Parteien beteiligen, aber eben nicht immer alle.

[1] vgl. Groth, Krejci, Günther (2021): New Organizing. Wie Großorganisationen Agilität, Holacracy & Co. einführen – und was man daraus lernen kann. Heidelberg: Carl Auer Verlag.