von Timm Richter
Die lernende Organisation, agil in der VUCA Welt, Wissensmanagement, „Wenn Siemens wüsste, was Siemens weiß“ – immerfort geht es in Organisationen darum, auf intelligente Art und Weise mit aktuellen Herausforderungen umzugehen. Oder anders gesagt: Organisationen versuchen, durch angemessene Anpassungen ihr Überleben und damit auch ihre Zukunftsfähigkeit sicherzustellen. Wenn ihnen das gelingt, dann waren sie intelligent (genug).

Intelligenz bezeichnet die Fähigkeit, Probleme so zu lösen, dass es weitergehen kann. Das menschliche Immunsystem hat dabei ganz andere Probleme als der Vertrieb eines Versicherungskonzerns oder das KI-gestützte Sprachübersetzungsprogramm, dementsprechend gibt es auch unterschiedliche Formen der Intelligenz, also Problemlösungskompetenz.
Intelligenz ist beobachterabhängig. Computerprogramme oder generative KI lösen (noch) nicht eigene Probleme, sondern sie werden als Technik genutzt, um Probleme von anderen zu lösen. Problemlösungskompetenz wird ihnen einprogrammiert, wir haben eine recht feste – eben technische – Kopplung von Ursachen und Wirkungen, von Problemen und Lösungen. Organisationen hingegen „kümmern“ sich als selbsterzeugtes soziales System nur um ihre eigenen Probleme bzw. das, was sie dafür halten. Und das machen sie eigensinnig auf selbstbestimmte Art und Weise.
Genauer formuliert: In Organisationen bilden sich über Zeit Erwartungsstrukturen aus, wie mit Irritationen aus der Umwelt umzugehen ist: eine Kundin will etwas kaufen, man weiß, wie man darauf reagiert. Es gibt Prozesse, um neue Produkte passend zu den identifizierten Marktanforderungen zu entwickeln oder formale und informale Praktiken, Entscheidungen für die Zukunftssicherung zu treffen, usw. Diese Erwartungsstrukturen kann man als das Wissen der Organisation verstehen, in denen die Organisation ihre im Laufe der Zeit aus Daten erzeugten Informationen eine zeitüberdauernde Form gibt. Sie zeigen sich in Strategien und Richtlinien; dem Organisationsaufbau mit Stellen, Rollen und Entscheidungsprozessen; dem Personal; informalen Praktiken, der Kultur sowie der Art, wie eine Organisation mit ihrer Umwelt interagiert. Darüber hinaus haben Organisationen Geschichten und Theorien über sich selbst, ihre Kunden, den Markt und allgemein über ihr Umfeld, also Modelle, um sich das eigene Handeln in der Welt zu erklären und Prognosen für die Zukunft abzuleiten. Ein externer Beobachter kann nun dieses Selbstbild beobachten und aus seiner externen Perspektive Unterschiede zwischen dem Selbstbild der Organisation und seinem Fremdbild feststellen, mithin der Organisation latentes Wissen zuschreiben (eben wenn Siemens wüsste …).
Die Intelligenz einer Organisation hängt also ab von (1) den Daten, die beobachtet werden, (2) der Art, wie die Organisation aus Daten Information erzeugt, (3) dem Wissen in Form von Erwartungsstrukturen sowie (4) dem Verstehen der Organisation von sich selbst in seiner Umwelt. Bei jedem dieser vier Schritte selektiert eine Organisation, entscheidet sich also für manches und schließt anderes aus. Sie reduziert Umweltkomplexität. Beraterinnen und Führungskräfte, die Organisationen beeinflussen wollen, fragen sich: Wären andere Selektionen angemessener? Wer Organisationen intelligenter machen möchte, kann an diesen vier Hebeln ansetzen, um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass Organisationen selbst ihre Selektionen, also ihre Art der Komplexitätsreduktion, anpassen und so (vielleicht?!) angemessener mit den Herausforderungen ihres Überlebens umgehen. Die vier Hebel können wir uns genauer anschauen:
Daten
Über Daten findet die Kopplung von Organisationen mit ihrer Umwelt statt. Das heißt ganz praktisch: Was wird in einer Organisation registriert und steht (potenziell) als Basis zur Informationsgewinnung zur Verfügung? Wer spricht mit welchen Kunden oder Lieferanten zu welchen Zeitpunkten? Welche quantitativen Daten werden erhoben und über welchen Zeitraum gespeichert? Wer hat Zugang zu diesen Daten und wo und wann werden sie genutzt? Wer beobachtet welche Wettbewerber? Welche Branchennews, Marktstudien, Zeitschriften sind abonniert? Welche Verbände sind als Datenquelle nützlich? Welcher Teil der Organisation kennt die Kundenbeschwerden? Wo und wie werden die Beobachtungen und Meinungen von Mitarbeitenden in die Kommunikation der Organisation eingespeist? Aber auch: Was wird explizit ausgeblendet? Welchen Medien kann man nicht vertrauen, auf die Erhebung oder Kommunikation welcher Daten verzichtet man, um Defokussierung zu vermeiden?
Führungskräfte und Beratung können die Intelligenz von Organisationen dadurch beeinflussen, dass sie den Fokus der Aufmerksamkeit und die Auswahl / die Verfügbarkeit / die Nutzung von Datenquellen lenken.
Information
Registrierung von Daten bedeutet, dass Unterschiede erkannt werden. Wenn die registrierten Unterschiede in der Organisation einen Unterschied machen, dann hat die Organisation Information gewonnen. Die Information ist nicht in den Daten enthalten, sondern wird von der Organisation hineingelesen, hineininterpretiert. Z.B.: Eine Organisation könnte bei einer Marktanalyse herausfinden, dass der Umsatz in einem sehr kleinen Marktsegment wächst; oder feststellen, dass die Kundenbeschwerden in den letzten zwei Wochen um 7% zugenommen haben. Diese Daten können nun unterschiedlich interpretiert werden, also mit einem unterschiedlichen Informationsgehalt versehen werden: Das kleine Marktsegment stellt eine Chance dar oder die Daten der Marktanalyse sind nicht zuverlässig, darauf sollte man nichts geben. Bei den Kundenbeschwerden: das sind normale Schwankungen, die immer mal wieder auftauchen oder aber es hängt mit der Rezepturänderung eines Produktes zusammen, die vor zwei Wochen eingeführt wurde. Wie Organisationen auf Daten reagieren, hängt davon ab, welche Informationen sie aus den Daten generieren, d.h. vor allem: wie werden Daten erklärt und bewertet und welche Daten werden mit welchen anderen Daten kombiniert und in einen Zusammenhang gestellt?
Führungskräfte und Beratung können die Intelligenz von Organisationen dadurch beeinflussen, dass sie Einfluss nehmen auf die Art und Weise, wie eine Organisation Informationen gewinnt, also welche Beschreibungen, Erklärungen und Bewertungen Informationswert für die Organisation gewinnen. Die Betrachtung von alternativen Beschreibungen, Erklärungen und Bewertungen verändert Information und damit potenziell das Handeln von Organisationen, so dass anderes Wissen entsteht oder andere Datenquellen genutzt werden.
Wissen
Eine Information ist stets ein Ereignis, es ist das Beobachten bzw. Erkennen eines Datums. Sobald die Information stattgefunden hat, ist sie auch schon vergangen. Wenn z.B. die Prokuristin eines Unternehmens darüber informiert, dass ab Januar 2025 E-Rechnungen von Lieferanten anzunehmen sind, dann macht die für einen Augenblick einen Unterschied … und dann weiß es die Organisation. Nun kann Unterschiedliches passieren. Die Organisation könnte zur Auffassung gelangen, also sich selbst informieren, dass diese neue Regelung für die Organisation nicht relevant ist, weitermachen wie bisher und die Information wieder vergessen … bis vielleicht in 2025 die erste E-Rechnung eintrudelt – das wäre dann eine neue Information. Oder aber die Organisation stellt fest, dass wegen der neuen Gesetzeslage die eigenen Abläufe zu ändern sind, so dass die Buchhaltungssoftware auch E-Rechnungen verarbeiten kann. In diesem Falle würde die Information dafür sorgen, dass sich das Wissen der Organisation ändert. Wissen ist eine zeitüberdauernde Struktur, Informationen als vorübergehendes Ereignis können Wissen (= Erwartungsstrukturen) verändern. In diesem Falle bleibt eine Spur der Information (nicht die Information selbst) über Zeit erhalten. Das Verhältnis von Information und Wissen ist insofern zirkulär, als dass das Wissen beeinflusst, welche Daten wie als Information verarbeitet werden. Hat man sich z.B für die Strategie einer Kostenführerschaft entschieden, so achtet man unter Umständen stärker auf Kosten, als wenn der strategische Fokus auf der Gewinnung von Marktanteilen läge.
Führungskräfte und Beratung können die Intelligenz von Organisationen dadurch beeinflussen, dass Erwartungsstrukturen der Organisation verändert werden. Direkt beeinflussbar sind die formalen Entscheidungsprämissen: Man kann die Unternehmensvision oder Ziele ändern, Prozesse anpassen, Qualitätsstandards anders definieren, die Ablauforganisation verändern, Personen neu einstellen oder Personen andere Stellen oder Rollen übernehmen lassen, etc. Man kann auch informale Praktiken, über die man sich informiert hat, z.B. Buchung der ersten Klasse bei Bahnfahrten innerhalb Deutschlands, offiziell bestätigen oder verbieten. Veränderte Entscheidungsprämissen bedeuten veränderte Erwartungsstrukturen darüber, wer was in der Organisation wie macht, mithin verändertes Wissen der Organisation.
Noch nicht gesprochen haben wir über die Kultur einer Organisation sowie die Vorstellungen der Organisation, wie die „Welt da draußen so ist“ – Niklas Luhmann nennt letztere kognitive Routinen. Kultur und kognitive Routinen sind ebenfalls Wissen, nämlich von außen beobachtbare, verfestigte Erwartungen darüber, wie die Organisation selbst (Kultur) bzw. die Umwelt (kognitive Routinen) „sind“. Kultur und kognitive Routinen entstehen informal evolutionär, es lässt sich weder steuern noch verhindern, dass Organisationen solche Erwartungen ausbilden, also diese Form von Wissen gewinnen. Kultur und kognitive Routinen können daher nur über Bande geändert werden. Die Veränderung von Datenquellen, der Informationsgenerierung und der entscheidbaren Entscheidungsprämissen – siehe Beispiele oben –, beeinflusst die nicht entscheidbaren Entscheidungsprämissen Kultur und kognitive Routinen. Eine weitere indirekte Möglichkeit ist der Versuch, in der Organisation ein anderes Verständnis über sich selbst und die Umwelt zu erzeugen.
Verstehen
Wissen kann explizite und implizite Form annehmen. Es gibt Erwartungsstrukturen, die wirken, ohne dass über sie in der Organisation kommuniziert wird. Ein Außenbeobachter würde diese als latent bezeichnen, also der Organisation unterstellen, dass sie sich an Entscheidungsprämissen ausrichtet (= etwas weiß), dies aber selbst nicht erkannt hat (= nicht verstanden hat). Verstehen ist eine reflexive Steigerung von Wissen. Wer etwas verstanden hat, der hat eine Theorie oder ein Modell von seinem Wissen. Wenn man also nicht „nur“ etwas weiß – z.B. in einem Restaurant einen guten Kundenservice zu liefern –, sondern mit Theorien bzw. Modelle verstanden hat, wie dieser Kundenservice entsteht, dann kann man den Kundenservice weiter verbessern bzw. prognostizieren und vorausahnen (modellieren!), was man in Zukunft tun sollte, damit es gut weitergeht. Über Verstehen gewinnt man Zukunft und steigert seine eigene interne Komplexität, da man vorausschauend agieren kann.
Auch Organisationen können verstehen. Verstehen heißt hier vor allem, dass in der eigenen Kommunikation Modelle / Theorien / Geschichten über die Organisation (Selbstbeobachtung) und die relevante Umwelt (Fremdbeobachtung) thematisiert werden. Oder anders gesagt: die Organisation entwickelt ein eigenes Bild über ihre Kultur und kognitiven Routinen, Modelle ihrer eigenen Modelle über sich selbst und die Umwelt.
Führungskräfte und Beratung können die Intelligenz von Organisationen dadurch beeinflussen, dass sie Reflexionsprozesse der Organisation über sich selbst oder ihre relevante Umwelt fördern und dabei eigene Perspektiven als Anregung zur Verfügung stellen. So können Erwartungsstrukturen, die von außen als latent beobachtet werden, in die Kommunikation gebracht werden. Damit hat sich noch nicht die vollzogene Praxis der Organisation, haben sich noch nicht die (nicht entscheidbaren) Entscheidungsprämissen geändert. Aber Organisationen können so zu einer vollzogenen Praxis, von der sie nun ein (anderes) Bild haben, nein sagen und variantenreicher darüber sprechen und entscheiden, was eine von ihnen erwartete Zukunft heute an Veränderungen benötigt. Verstehen ermöglicht die Arbeit in der Zeit und bringt den „Schatten der Zukunft“ ins Spiel. So wird es möglich zu fragen: „Was passiert, wenn nichts passiert?“ Und auch: „Was müssen wir heute tun, damit mir morgen noch im Spiel sind?“