von Torsten Groth
Über die letzten Jahrzehnte haben sich im Feld der Organisations- und Unternehmensberatung systemische Vorgehensweisen etabliert. „Systemisch“ zu arbeiten gehört in vielen Kreisen zum guten Ton, nicht selten werden in Stellenausschreibungen Kompetenzen in systemischen Methodiken zum Einstellungskriterium gemacht, ohne dass konkretisiert wird, was damit gemeint ist … Augenfällig ist darüber hinaus, dass sich im Laufe der Zeit die systemischen Ansätze immer stärker differenziert haben. Entstanden sind systemische Denkschulen, die sich mal auf prägende Gründerpersönlichkeiten berufen, mal auf bestimmende systemische Prämissen, mal auf Entstehungsorte (Heidelberg, Wien, Bielefeld …). Ist von „systemischem Vorgehen“ die Rede, so muss nachgefragt werden, was gemeint ist: Gehen die Akteure eher soziologisch, sozialpsychologisch oder familientherapeutisch vor, favorisieren sie Coachings, arbeiten sie vermehrt mit Aufstellungsmethoden oder folgen sie gar Farbenlehren? Sind sie in ihrer Arbeit eher organisationstheoretisch oder hypnosystemisch geprägt, gruppendynamisch, lösungsfokussiert oder irgendwie ganzheitlich? – All dies wäre bereits Anlass genug, sich mit den Besonderheiten eines eher systemtheoretisch fundierten Beratungsansatzes zu befassen, nicht zuletzt auch um Unterschiede im Denken und Handeln hervorzuheben und damit Außenstehenden Orientierungshilfen zu geben.
Ein zusätzlicher Orientierungsbedarf entsteht aufgrund neuerer Entwicklungen im Beratungsmarkt. Augenfällig ist, dass die anfangs klarer erkennbaren Unterschiede zwischen den drei Idealtypen Expertenberatung, Organisationsentwicklung und Systemische Beratung verschwimmen. Alle drei Ansätze haben produktiv voneinander gelernt und integrieren explizit wie implizit Prämissen und Konzepte der jeweils anderen – aus Konkurrenz wurde Komplementarität. Insgesamt kommt es nicht nur zu einer Entgrenzung zwischen den bekannten Ansätzen, auch die Beratungsszene ist unübersichtlicher geworden. Ehemals getrennte Beratungsdienstleister wie Werbeagenturen, Marken- und Marketingberater, Personaldienstleister, IT-Beratungen, Wirtschaftsprüfungsgesellschaften etc. integrieren die Begleitung von Veränderungsprozessen in ihre Arbeit. Nicht zu vergessen ist, dass mit den Vertreter:innen neuerer Organisationsansätze (Agilität, New Work etc.) neue „Player“ das Feld betreten haben. Diese firmieren oft unter der Bezeichnung Agile Coaches und bedienen sich selektiv, toolorientiert aus dem Fundus systemischer Konzepte. – Wenn man zuletzt noch bedenkt, dass viele neuen Player die Bezeichnung „systemisch“ mitführen, finden sich weitere gute Gründe, den Kern eines von swf gepflegten systemtheoretischen Beratungsansatzes herauszuarbeiten und als Ausgangspunkt für den weiteren Klärungsprozess anzubieten.
Für dieses Unterfangen bieten sich zwei Perspektiven an:
- Was sind die Prämissen der eigenen Arbeit? – Was sind also in einer Innensicht die selbstgewählten Grundlagen des Denkens und Handelns, auf die sich ein dezidiert systemtheoretischer Ansatz bezieht?
- Was sind Zuschreibungen im Feld, mit denen sich dieser Beratungsansatz reflektierend auseinandersetzen sollte? – Wie ist also die Außensicht des Marktes und welche Lehren können daraus für die eigene Weiterentwicklung gezogen werden?
Im Folgenden wird die erste Perspektive skizziert, die zweite folgt in einem späteren Beitrag.
Prämissen
Ein systemtheoretisch fundierter Organisationsberatungsansatz zeichnet sich grundlegend durch eine enge Kopplung an Erkenntnis- und Sozialtheorien aus. Im Gegensatz zum Alltagsverständnis, in dem die Theorie als Gegensatz zur Praxis betrachtet wird, zieht dieser Ansatz seine Praxisrelevanz aus dem Rückgriff auf Theorie. Es gilt der Leitspruch: „Die einfachen Tools und Konzepte haben die Praxis als Gegner; gute Theorien haben die Praxis auf ihrer Seite“.
Der Wert eines theoriegeleiteten Arbeitens in einer Beratungspraxis entsteht dabei aus folgenden Aspekten:
- Eine systemtheoretische Beratungspraxis fußt generell auf zeitüberdauernden Ideen, Konzepten und Prämissen über das Funktionieren und Nicht-Funktionieren sozialer Systeme (Organisationen und Teams), die mitsamt langjährigen Forschungserkenntnissen in diesem weiten Feld hinterlegt sind.
- Über eine theoriebasierte Rahmensetzung wird zur beobachtbaren Praxis und auch zu den kursierenden Alltagstheorien eine “interessante“, informative Differenz hergestellt, mit der man gemäß der Prämisse: „Sorge für anschlussfähige Irritationen!“ beraterisch nutzbringend arbeitet.
- Durch Rückgriff auf bewährte theoriegeleitete Heuristiken werden wirksame Interventionsstrategien entworfen, Interventionen praktisch umgesetzt, bzw. wird die Wirksamkeit der Intervention reflektiert.
Entscheidet man sich für die Nutzung der Systemtheorie – andere Theorien sind einem theoriegeleiteten Arbeiten selbstverständlich möglich – so lässt sich die Vielzahl an mitgeführten Theorieprämissen unter fünf Gesichtspunkten gruppieren: Erstens die Anerkennung von Komplexität und zweitens die Anerkennung der Beobachterabhängigkeit, drittens ein Fokus auf Erwartungs-/Musterbildungen, viertens eine besondere Sensibilität für Organisationen mit ihren Kulturen und fünftens ein auf allem Vorgenannten fußendes Interventionsverständnis. Hierzu einige Schlaglichter:
Anerkennung von Komplexität und Arbeit mit prinzipieller Nichtdurchschaubarkeit der Verhältnisse
- Eine systemtheoretisch fundierte Beratung nimmt Komplexität ernst, indem sie anerkennt, dass Gesellschaften insgesamt, die Wirtschaft mit ihren Märkten und Organisationen sowie das individuelle Verhalten prinzipiell undurchschaubar sind – für sich genommen, in ihren Wechselwirkungen und damit auch in ihren zukünftigen Entwicklungen.
- Einher mit dieser weitreichenden (Ein-)Sicht geht eine tiefe Skepsis gegenüber allen Modekonzepten, die schnelle, einfache, einseitige und generalisierte Lösungen versprechen, die ja nur dann funktionier(t)en, wenn der Lauf der Dinge doch durchschaut werden könnte.
- Gleichzeitig gilt die Einsicht, dass nur über Komplexitätsreduktion Handlungsfähigkeit gesichert ist. Systemtheoretisch fundierte Beratung verweist auf die Notwendigkeit und zugleich die Risiken der Komplexitätsreduktion. Soweit wie möglich macht sie die Art der gewählten Komplexitätsreduktion transparent.
- Jede Organisation, die in ihrer Umwelt überlebt hat, hat viable Vereinfachungen in gelebten Mustern gefunden. Dies gilt es als Systemleistung anzuerkennen und zugleich bei sich geänderten Kontextbedingungen neu zu bewerten.
- Auf Basis dieser Prämissen sucht, findet und erfindet Beratung gemeinsam mit dem Kunden passende bzw. im Vergleich zu den vorigen Lösungen passendere Formen der Komplexitätsreduktion.
- Wenn systemtheoretisch fundierte Ansätze von „Lösungen“ sprechen, dann heißt dies immer Balancierung von Lösungen, die zugleich auch Probleme schaffen, bzw. die ihren Preis haben und damit immer nur vorübergehend sind.
Anerkennung von Beobachterabhängigkeit und Arbeit an Wirklichkeitskonstruktionen
- Eine systemtheoretisch fundierte Beratung nimmt konstruktivistische Erkenntnisprämissen ernst. An die Stelle eines Alltagsverständnisses einer geteilten, „einzigen“ Welt bzw. Realität tritt die Prämisse, dass Welten und Wirklichkeiten beobachterabhängig konstruiert werden – in sachlicher, sozialer und zeitlicher Hinsicht.
- Zur Beobachterabhängigkeit gehört auch, dass nicht nur Individuen Beobachter sind, sondern auch soziale Systeme. Jedes soziale System (jedes Unternehmen, jede Abteilung, jedes Team etc.) fertigt auf der Basis eigener Unterscheidungen Bilder und Beschreibungen von sich und von seinen Umwelten an (Systeme und Umwelten bilden jeweils (Überlebens-)Einheiten. Und jede dieser Perspektiven ist als „richtig“ anzuerkennen – aus ihrer Perspektive.
- Beratung beginnt mit der Beobachtung von Beobachtern und basiert auf einer Wirkungsidee der Veränderung von Beobachtungsweisen (Eigen- wie Fremdsichten), mithin also von Wirklichkeitskonstruktionen.
- Wenn Interventionen als Eingriffe in verschränkte Selbst- und Fremdsichten verstanden werden, dann setzen sie zugleich an den oben erwähnten Formen der Komplexitätsreduktionen an (…jede Form der Beobachtung ist eine Komplexitätsreduktion).
- Interventionen mit Fokus auf Beobachtungsweisen lassen sich differenzieren in Veränderungen von jeweils musterhaft angefertigten Beschreibungen, Erklärungen und Bewertungen.
- Gelingende Intervention zeigt sich darin, dass aufgrund anderer Beobachtungen (Beschreibungen, Erklärungen, Bewertungen) anderes bzw. neues Verhalten möglich wird, das mit der Idee einer verbesserten Überlebensfähigkeit verknüpft ist.
Anerkennung der Relevanz von Erwartungsstrukturen und Arbeit an Kopplungsphänomenen und Widersprüchen
- Eine systemtheoretisch fundierte Beratung betrachtet alle Formen der Komplexitätsreduktion und alle Formen der Beobachtung als sozial eingebettet, also „gerahmt“ von Erwartungen.
- Organisationen wie auch Teams als soziale Systeme entwickeln sich durch (feste oder lose) Kopplung an sozialen Erwartungsstrukturen (i.S.v. „Spielregeln“).
- Intervention setzen vornehmlich auf der Ebene der Erwartungsstrukturen an und weniger beim Individuum. In der Veränderung der Erwartungen oder auch der Kopplungen und Kopplungsmuster ist die größte Wirksamkeit erwartbar.
- Mit dem Fokus auf soziale Erwartungen geht eine geteilte Sicht auf das vermeintlich unteilbare Individuum einher: Die Psyche und der Körper werden als relevante Umwelten betrachtet und ggf. einbezogen, der stärkere Fokus liegt jedoch auf der Frage, wie Personen in ihren Rollen im sozialen Kontext entstehen und „geformt“ werden.
- Gesellschaften, Organisationen, Abteilungen und Teams mit ihren Mitgliedern bilden jeweils für sich spezifische Erwartungen an das Verhalten aus, so dass jedes Verhalten immer eingebettet ist in ein Netzwerk an Erwartungen. Soziale Situationen sind als „mehrfach gerahmt“ zu betrachten. Der Organisation kommt – gerade weil sie im interaktionslastigen Alltagserleben oft ausgeblendet wird – eine besondere Bedeutung zu.
- Aufgrund dieser mehrfachen Rahmung ist es erwartbar, dass Akteure Widersprüche bearbeiten müssen, die hervorgerufen werden durch gleichzeitig geltende und sich widersprechende Erwartungen. Damit geraten sie in pragmatisch paradoxe Situationen: Was „richtig“ ist gemäß einer Erwartung ist „falsch“ gemäß einer anderen, auch geltenden Vorgabe. Das Management von (strukturellen) Konflikten und die Handhabung von Paradoxien wird als normal in Organisationen betrachtet; systemtheoretisch fundierte Beratung adressiert die grundlegenden Paradoxien, reflektiert und bewertet den praktizierten Umgang mit Paradoxien und sucht mit dem Kunden nach brauchbaren Formen der Paradoxiebearbeitung.
Anerkennung der Einzigartigkeit von Organisation mit ihren Kulturen
- Eine systemtheoretisch fundierte Beratung fokussiert besonders auf Organisationen und betrachtet sie als historische Systeme, die sich in der Gesellschaft und in einem relevanten Markt- und Kundenumfeld einzigartig entwickelt und differenziert haben – und weiterentwickeln und differenzieren.
- Organisationen sind definiert als besondere Sozialsysteme, in denen es um die Kommunikation von Entscheidungen geht. Die empirisch wenig haltbare Idee rationaler Wahl wird ersetzt durch den Zentralbegriff der „Unsicherheitsabsorption“: Unter Rückgriff auf welche Regeln und Routinen gelingt es Organisationen, vorübergehende Sicherheiten zu generieren, die das Handeln koordinieren und Entscheiden ermöglichen?
- Ist im Alltag von Organisation die Rede, wird oft ein Organigramm hervorgeholt, das Zuständigkeiten regelt und Ablaufvorschriften, die Prozesse vorgeben. Ein systemtheoretisch fundierter Ansatz reformuliert diese normativen Vereinfachungen mit dem Konzept der „Entscheidungsprämissen“ (Programme, Kommunikationswege, Personal) und reflektiert praktisch-empirisch, wie – formal und informal und Bezugnahmen auf welche Prämissen – Entscheidungen getroffen werden.
- Über Zeit und ungeplant hat sich hierbei eine Kultur als Sonderform der Entscheidungsprämissen herausgebildet, also eine diffuse Rahmung des „Wie-man-hier-Dinge-macht“, also: des Entscheidens, des Umgangs mit Formalität und Informalität, mit Kunden, Mitarbeitern etc. Diese Kulturphänomene gilt es im doppelten Sinn zu beachten, einerseits als Beiträge zur Überlebenssicherung und andererseits auch als Überlebensgefährdungen. Im gleichen Maße wie der Erfolg hängt auch der Misserfolg der Organisationen von kulturell geprägten Formen der Unsicherheitsabsorption ab.
- Auch wenn es für ähnliche Organisationstypen in ähnlichen Kontexten vergleichbare Herausforderungen gibt, ist jede Organisation als einzigartig zu betrachten, so dass alle Interventionsstrategien und aller Formen beraterischer Intervention dieser Einzigartigkeit Rechnung tragen müssen.
Anerkennung der Notwendigkeit und „Unmöglichkeit“ von Interventionen
- Eine systemtheoretisch fundierte Beratung reflektiert Kundenanfragen als Indiz, dass bisherige, kundenseitige Lösungsversuche nicht den erwünschten Erfolg erzielt haben.
- Es schließt die Prämisse an, dass Anfragen und Ausschreibungen zwar wichtige Anliegen des Kunden spiegeln, diese jedoch oft zu eng mit naheliegenden, alltagstheoretischen Kausalschemata und eigenen Lösungsideen verknüpft sind.
- Gemäß dem Leitspruch „Übernimmst Du die Lösungsidee Deines Kunden, übernimmst Du dessen Nichtlösepotenzial“ (F.B. Simon) bedürfen Anliegen des Kunden einer tiefergehenden Reflexion und ggf. auch Neuformulierung, natürlich gemeinsam mit dem Kunden. – Kritisch blickt eine systemtheoretisch fundierte Beratung deshalb auf fixierte Ausschreibungen, in denen ein Kunde detailliert vorschreibt, wie Beratung zu agieren hat.
- Der Grundvertrag der Beratungsbeziehung liegt darin, dass der Kunde Experte auf der inhaltlichen Ebene der Organisationsspezifika ist (und bleibt) und somit die Verantwortung für die Letztentscheidung behält. Die Beratung hingegen ist Experte der allgemeinen Funktionsfähigkeit komplexer Systeme und bringt zudem seine Expertise in der Gestaltung (Design und Architektur) von Veränderungsprozessen ein.
- Aufgrund dieses Expertenstatus’ charakterisiert die Bezeichnung „Anwalt der Ambivalenz“ eine systemtheoretische Beratung am ehesten: Sie bringt Fachwissen ein, ohne inhaltliche Lösungen vorzugeben; sie forciert das Entscheiden wenn nur reflektiert wird, sie forciert das reflektieren, wenn nur entschieden wird; sie thematisiert Lösungsprobleme wenn Lösungen forciert werden, sie stabilisiert, wenn alle verändern wollen und verändert, wenn alles stabil ist etc.
- Die Kunst und die Wirkung der Beratung liegt in der Balancierung von Irritation und Anschlussfähigkeit: Wie kann das systemtheoretische (neue, irritierende) Zusatzwissen anschlussfähig vermittelt und mit dem Kundenanliegen verknüpft werden?- Ein Balanceakt, der immer wieder neu, reflektierend mit dem Kunden austariert werden muss:
- Mit der Anerkennung von Komplexität und Beobachterabhängigkeit mitsamt der Einzigartigkeit der Kunden und der spezifischen Gestaltung der Beratungsbeziehung geht eine Skepsis gegen kontextfrei eingesetzte Tools und standardisierte Erfolgskonzepte einher.
- In diesem Verständnis gibt es auch keine systemischen Tools. Verwendung finden alle möglichen Techniken und Tools der Gesprächsführung und Visualisierung, sowie Team-, Organisations- oder auch Strategie- und Change-Ansätze, sofern sie im Kontext des Anliegens, der Situation und im übergeordneten Sinne eines systemtheoretisch fundierten Begründungszusammenhangs als passend erachtet werden bzw. eingesetzt werden können.
- Komplexe Systeme nicht durchschauen zu können und den Verlauf von Beratungsbeziehungen nicht vorhersagen zu können, heißt nicht, dass man nicht wirksam intervenieren kann. Der Leitspruch: „Willst Du ein System kennenlernen, dann interveniere!“, verweist auf die Relevanz, den Fortgang eines Beratungsprozess von den Auswirkungen der Intervention bestimmen zu lassen. Ein reflexives, experimentelles, iteratives Vorgehen in einem mit dem Kunden abgestimmten prozessualen und inhaltlichen Kontext wird diesem Interventionsverständnis gerecht.
Wer die Prämissen mitführt, dass komplexe Systeme anders als geplant reagieren, oder auch dass Widerstand erwartbar ist, wird mit ernsthaftem Humor und aktiver Gelassenheit eines Beobachters 2. Ordnung eine Beratungsleistung vollbringen, die vom Kunden als hilfreich bewertet wird.