15 Thesen für die Zeit nach Corona

Krisenzeiten sind Zeiten des Lernens, sind Zeiten der kritischen Reflexion bisheriger Annahmen und Denkprämissen. In diesem Sinne sind die folgenden Thesen zu verstehen:

  1. Systemdenken ist aktueller denn je: Die Corona-Krise zeigt abermals auf, dass wir in einer vernetzten, komplexen Welt leben. – Und damit in einer Welt prinzipieller Undurchschaubarkeit. In allen Entscheidungen ist zukünftig damit zu rechnen, dass Unberechenbares passiert. Alle reden von Komplexität, jetzt zeigt sich, was Leben in komplexen Zeiten bedeutet.
  2. Die Kernfrage der Unsicherheitsabsorption (H. Simon, J.G. March, N. Luhmann) tritt stärker hervor und wird bleiben: Die Corona-Krise zeigt uns das Illusionäre der Illusionspflege. Wir haben es mit einer Welt zu tun, in der wir uns von Ideen der Vorhersagbarkeit verabschieden müssen: Wie gewinnt man dennoch Sicherheit mit angemessenem Kontingenzbewusstsein? Für Organisationen und Teams werden die Fähigkeiten, sich bewusst in Unsicherheiten (und nicht in Scheinsicherheiten) zu bewegen, an Bedeutung gewinnen.
  3. Das Unerwartbare bleibt erwartbar, Ansätze zum „Managing the unexpected“ (K.E. Weick, K. Sutcliffe), die schon vor mehr als 10 Jahren entwickelt wurden, sollten wieder an Aufmerksamkeit gewinnen und sind überdies weiterzuentwickeln. 
  4. Damit treten auch Fragen der Kopplung (F.B. Simon) Körper-Psyche-Interaktion-Organisation-Gesellschaft stärker hervor. Ansätze, die bewusst die Systemdifferenzierungen aufzeigen, um im Anschuss das spezifische Zusammenwirken einzelner Systemtypen in den Blick zu nehmen, können relevanter werden. Ein zukünftiges Thema könnte das der Kopplungskunst sein.
  5. Die Frage, warum ein Systemansatz den Fokus auf „Überleben“ (St. Beer) legt, und dieses Kriterium führungsseitig höher bewertet als rein ökonomische Erfolgskriterien, sollte sich selbst beantworten, bedarf nun der weiteren Ausarbeitung: An welchen Kriterien wird „Überleben“ gemessen, was sind die relevanten Überlebenseinheiten, und was sind die relevanten Zeithorizonte des Denkens? 
  6. Führung bleibt postheroisch (Ch. Handy, D. Baecker): Auch wenn derzeit auf der Vorderbühne einzelne Personen heroisiert werden und Prozesse der Autoritätszuschreibung in Krisenzeiten funktional sein können, so zeigt sich auf der Hinterbühne, dass erfolgreiche Interventionsstrategien Strategien der Vernetzung und Koordination von verteiltem Wissen sind. Netzwerkthematiken und deren Theorien können hier angekoppelt werden. Welche Funktion hat Führung? Welche Kompetenzen sollten Führungskräfte zukünftig mitbringen?
  7. Strategisch geht es zukünftig mehr um Robustheit und Resilienz, was konkrete Auswirkungen auf die Balancierung „Diversifizierung“ vs. „Spezialisierung“ hat und auch auf die Balance von „Exploration und Exploitation“ (J. G. March); „Slack“ i.S.v. Ressourcenüberschuss (R. Cyert, J.G. March) sollte in der Überlebensrelevanz erkannt werden, was in Kombination mit dem Überlebenskriterium neue Fragen aufwirft, nach welchen Kennzahlen gesteuert wird.  
  8. Die „Intelligenz“ von (vielen) Familienunternehmen (R. Wimmer, F,B. Simon, A.v. Schlippe, T. Groth) tritt deutlicher hervor, gemeint ist z.B. die mit „Enkelfähigkeit“ zusammengefasste Ausrichtung auf Langlebigkeit unter Verzicht auf das Ausnutzen kurzfristig riskanter Chancen. Was kann man von Familienunternehmen lernen, was müssen Familienunternehmen lernen?
  9. Die für jede Entscheidung notwendige Transformation von Gefahr in Risiko (N. Luhmann) wird anspruchsvoller, da in den Fokus der Aufmerksamkeit weit mehr Gefahren einzubeziehen sind. Wie schafft man es dennoch (qua Verfahren und Vertrauen) weitreichende entscheidende Entscheidungen zu treffen? Welche moderativen Kompetenzen werden wichtiger? Welche (intutiven, qualitativen, quantitativen, semantischen, wie integrierten) Daten fließen in Entscheidungen ein?  Teams sind hierbei noch stärker gefordert, die Mehrdeutigkeiten und Ambivalenzen zu integrieren.
  10. Wann ist Schluss mit der Überhöhung von toolorientierten Ansätzen? – Postmodisch zu agieren, hieße Ansätze wie Agilität, Holokratie, Purpose etc. zu nutzen, indem man deren Impulse in einen größeren Kontext der skizzierten Überlebensfragen stellt. 
  11. Alle Überlegungen zur zukunftsfähigen Strategie sind in den Kontext „Disruption und Digitalisierung“ zu stellen. Wer nur daran denkt, Faxgeräte (Stichwort Gesundheitsämter … ) zu ersetzen, kratzt nur an Oberflächenphänomenen grundlegender Veränderungsprozesse. Wie sähe z.B. eine systemisch reflektierte resiliente Digitalisierungsstrategie aus? Wie lassen sich Start-ups nachhaltig und nutzbringend mit größeren Organisationseinheiten verknüpfen?
  12. Die Zeit nach Corona wird eine Zeit verstärkter digitaler Vernetzung mit vermehrter virtueller Kommunikation und Entscheidung, was Fragen der Resonanzfähigkeit und Minderung oder Erhöhung kollektiver Intelligenz aufwirft und zu einer bewussteren differenzierten Nutzung physischer und digitaler Formate der Kommunikation führen wird. Welche Formate, Architekturen und Designs eignen sich?
  13. Die Zeit nach Corona ist eine Zeit, in der zunächst die Krisenfolgen zu bewältigen sind und zugleich alles oben Genannte relevanter wird: kurzfristige Krisenbewältigung und langfristige Krisenresistenz sind zu balancieren. Dies wirft neue Fragen eines Managements im Modus des „Sowohl-als-auch“ auf.
  14. Krisen dieser Art, so sehr sie das Leben einschneidend verändern und Unternehmen gefährden, sind als Lernchancen zu begreifen. Gesellschaft, Organisationen, Teams und Individuen sind zurzeit mit der Anpassung an Krisenlagen beschäftigt. Und zugleich hatte sich das Lerntempo erhöht, ohne dass bisher Zeit blieb, das Lernen als ein solches zu reflektieren. Nach einem Jahr Krisenmodus wird es Zeit, bewusster, gezielter in einen Lernmodus zu wechseln.
  15. Die Zeit nach Corona ist eine Zeit, in der Unternehmen noch kritischer befragt werden hinsichtlich ihres gesellschaftlichen Beitrags. Die Frage, wie wollen wir leben (zurück ins Bekannte, grundlegend anders, i.S.v. entschleunigt, nachhaltig, solidarisch?) wird von vielen Bürger*innen und Mitarbeiter*innen gestellt werden. Wie lange kann sich ein Großteil der Unternehmen noch von der fundamentalen Aufgabe eines nachhaltigen Schutzes der Umwelt abkoppeln? 

Wann, wenn nicht jetzt ist es Zeit, Grundsatzfragen zur nachhaltigen Überlebenssicherung zu stellen?

Torsten Groth

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