Entscheidende Unterscheidungen

von Timm Richter

Jeder Entscheidungsprozess ist einzigartig und verläuft auf eine unvorhersehbare Weise. Gleichwohl werden manche Prozesse als gelungener wahrgenommen im Vergleich zu anderen. Gelingend in dem Sinne, dass eine Entscheidung „hält“, also sowohl von Beteiligten akzeptiert und umgesetzt wird als auch für eine angemessene Zeit von Beteiligten als richtig bewertet wird. Es geht in Entscheidungsprozessen darum, vor dem Hintergrund einer ungewissen Zukunft durch die Entscheidung eine Selbstbindung zu erzeugen, die für eine Zeit sichere Handlungsorientierung stiftet. Kritische Aspekte, die einen größeren Einfluss auf das Zustandekommen einer solchen wirksamen Selbstbindung haben, lassen sich identifizieren, wenn man mit folgenden Unterscheidungen Entscheidungsprozesse beobachtet.

Entscheidung | Kontext (Worum geht es?)

Eine Entscheidungssituation entsteht nicht aus dem Nichts, immer gibt es schon eine Vorgeschichte. Der Impuls ist trotzdem oftmals, sich direkt in die Entscheidung zu stürzen, man möchte ja vorankommen. Um aber schneller zu werden, lohnt es sich, langsamer vorzugehen und die Ausgangslage zu klären. Wie konnte es überhaupt zu dieser Entscheidungssituation kommen? Durch wen oder was wurde der Impuls zum Entscheiden ausgelöst? Und welche Intention steckt dahinter, was erhofft man sich von der Entscheidung?

Alle diese Fragen zielen darauf ab, den Kontext besser zu verstehen, innerhalb dessen eine Entscheidung getroffen werden soll. Die Einbettung einer Entscheidung beeinflusst diese (indirekt) sehr stark, je nach Kontext geht man anders vor und trifft auch andere Entscheidungen. Wird der Kontext nicht berücksichtigt, so steigt das Risiko, dass eine Entscheidung nicht anschlussfähig ist und unterlaufen wird. Kennt man hingegen den Kontext, so kann dieser im Entscheidungsprozess entscheidend berücksichtigt werden.

Variabel | invariant (Was ist schon entschieden?)

Ein wichtiger Aspekt der Kontextklärung, der besonders hervorzuheben ist, ist die Frage der Grenzziehung für Entscheidungen. Welchen Entscheidungsspielraum gibt es überhaupt? Was ist bereits entschieden? Und was geht gar nicht?

Mit solchen Fragen werden implizite Vorannahmen und Rahmungen einer Entscheidung sichtbar gemacht, die bereits als invariant und nicht verhandelbar gesetzt sind. Wenn z.B. ein Einkaufsteam einen Dienstleister auswählen soll, kann es sein, dass sie nicht jeden beliebigen auswählen dürfen. Vielleicht muss er schon in der Branche gearbeitet haben, über bestimmte Zertifizierungen verfügen oder muss Mindeststandards bei der Durchführung garantieren. In Entscheidungsprozessen ist es sehr hilfreich, rote Linien zu bestimmen, die in keinem Fall überschritten werden dürfen. Sind diese geklärt, weiß man: Alles andere ist erlaubt (=variabel). Natürlich kann man nicht darauf hoffen, alle Restriktionen vorab zu klären, denn manche rote Linien fallen erst dann auf, wenn man im Begriff ist, sie zu überschreiten. Die Unterscheidung variabel – invariant hilft aber im Fokus zu haben und immer wieder aktiv darauf zu testen, wo potenzielle Grenzlinien verlaufen können.

Eine wesentliche Grenzziehung ist Zeit, die man hat, also die Frage: Gibt es einen Zeitpunkt, bis wann eine Entscheidung getroffen sein muss? In dem Zusammenhang sollte die Frage: ‚Und was passiert, wenn nichts passiert?‘ auf keinen Fall fehlen. Dahinter steckt auch die Klärung, was eine Nicht-Entscheidung bedeutet. Es macht z.B. einen Unterschied, ob in einer Vertragsverhandlung bei Nicht-Entscheidung sich ein aktueller Vertrag automatisch verlängert oder erst gar nicht zustande kommt. Und so kann man auch eine Entscheidungsdelegation offen rahmen – wenn ihr euch nicht entscheidet, passiert nichts – oder aber mit einer anderen „Default“-Entscheidung – wenn ihr euch nicht für etwas anderes entscheidet, wird meine (Vor)entscheidung greifen. Je nach Grenzziehung kann man sehr unterschiedliche Entscheidungsdynamiken erwarten.

Öffnen | schließen (Wo sind wir im Prozess?)

Ist der Entscheidungsspielraum durch Sichtbarmachung des rahmenden Kontextes und der Grenzlinien abgesteckt, beginnt der Prozess, den man im engeren Sinne unter Entscheidung versteht. Es geht darum, mögliche Entscheidungsalternativen zu (er)finden (=Öffnen) und dann von diese eine auszuwählen (=Schließen).

Mit Blick auf diese Unterscheidung ist es besonders hilfreich zu prüfen, ob alle am Entscheidungsprozess Beteiligten sich einig sind, ob man in der Phase des Öffnens oder des Schließens ist und welche Phase zum jetzigen Zeitpunkt angemessen ist (siehe oben: Wieviel Zeit geben wir uns?). Gibt es hier unterschiedliche Auffassungen, kann es sehr anstrengend werden, wenn manche Personen neue Optionen generieren, während andere versuchen, die Optionsvielfalt zu reduzieren.

Entscheiden 1. Ordnung | Entscheidung 2. Ordnung (Wie entschieden sind wir?)

Bei Entscheidungsprozessen ist man in der Regel im operativen Tun verstrickt, d.h. es wird versucht, eine Entscheidung zu treffen (Entscheiden 1. Ordnung). Dabei kann man nicht sehen und auch nicht entscheiden, wie das Entscheiden entschieden wird (Entscheidung 2. Ordnung). Für gelingende Entscheidungsprozesse kann es für an Entscheidungsprozessen beteiligten Personen hilfreich sein, implizit oder auch explizit zu beobachten, wie in diesem Entscheidungsprozess entschieden wird. Dazu bieten sich Fragen an wie:

  • Was ist die Erwartung, wie hier eine Entscheidung getroffen wird? Und wird die von allen geteilt?
  • Was ist eine angemessene Weise, die Entscheidung zu treffen und sollten darüber (vorher) gesprochen werden?
  • Sollten der Entscheidungsmodus gewechselt werden? Und wenn ja, sollte das explizit gemacht werden?
  • Haben wir bereits eine Entscheidung getroffen, obwohl das nicht explizit ist? Bzw.: Ist unsere getroffene Entscheidung tatsächlich eine Entscheidung, d.h.: Wird ernsthaft erwartet, dass diese kommunizierte Erwartung Bindungskraft für die Zukunft hat?

Diese Unterscheidung zwischen Entscheiden erster und zweiter Ordnung macht die Reflexion über das Zustandekommen von Entscheidungen erster Ordnung stark. In unterschiedlichen Teams oder Organisationen kommen Entscheidungen auf unterschiedliche Weise zustande, werden andere Elemente benötigt, damit eine Entscheidung eine Entscheidung ist, also bindende Wirkung erzielt. Manchmal braucht es mehr rational erscheinende Begründungen, ein anderes Mal Konsens oder vielleicht die Überzeugung, dass andere (Externe) ähnlich entschieden haben. Keiner dieser Wege hat ein Primat, es sind unterschiedliche Möglichkeiten, die Ungewissheit in Entscheidungssituationen zu überbrücken. Wer Entscheidungen herbeiführen möchte, tut gut daran zu beobachten, was genau dafür in der aktuellen Entscheidungssituation gebraucht wird.

Vom WAS zum WIE des Entscheidens

Allen genannten Unterscheidungen ist gemeinsam, dass sie den Fokus im Entscheidungsprozess verschieben. Es dreht sich dann nicht mehr nur um die Entscheidung, die Optionen und Argumente, die Auswahl der vermeintlich besten Alternative. In Ergänzung wird der Prozess des Entscheidens beobachtet, werden die blinden Flecken ins Visier genommen, die oftmals gerne verdrängt werden, da sie die Komplexität und den vermuteten Schwierigkeitsgrad des Entscheidens erhöhen. Der Kontext steigert Informationen, die Identifikation von Grenzen engt Spielräume ein, dass stärkere Öffnen macht das folgende Schließen schwieriger und die Diskussion um die Frage, wie entschieden wird, birgt das Risiko zu erkennen, dass man auch immer auf andere Art entscheiden könnte und auch dies noch entscheiden muss.

Gleichzeitig bietet das Sichtbarmachen dieser Voraussetzungen, die in allen Entscheidungsprozessen mitlaufen, die Möglichkeit, eben aufgrund dieser zusätzlichen Reflexion auf andere und neue Ideen zu kommen, Entscheidungsprozesse zu gestalten und mögliche Gesprächsverläufe in Entscheidungssituationen zu antizipieren. Wer „von außen“ mithilfe dieser Unterscheidungen auf Entscheidungsprozesse schaut, hat in jedem Fall mehr Informationen, mit denen man dann – vielleicht – einen entscheidenden Unterschied machen kann.