Leben wir im Anthropozän oder nicht?

von Timm Richter

… so lautet der Titel und die Leitfrage eines Artikels aus der Süddeutsche Zeitung.

Es wird darüber berichtet, dass in Gremien der „Internationalen Union der Geowissenschaften“ (IUGS) ein wissenschaftlicher Streit über Abstimmungen (!) entbrannt ist, ob das Anthropozän eine geologische Epoche oder nur ein Ereignis sei. Und auch darüber, wann diese Epoche oder das Ereignis begonnen habe, herrscht Uneinigkeit. Der nun diskutierte Vorschlag, als Startpunkt solle 1950 festgelegt (!) werden, stößt auf Unverständnis. „Der vorgeschlagene Zeitpunkt spiegle nicht den längerfristigen Einfluss des Menschen wider, sondern sei künstlich gewählt“, argumentiert laut SZ Jan Piotrowski, ein Geologie-Professor.

Diese Diskussion ist in mehrfacher Hinsicht soziologisch interessant. Das Argument von Piotrowski impliziert die Annahme, dass es natürliche Zeitpunkte gäbe, die es im wissenschaftlichen Prozess zu entdecken gäbe. Er zeigt damit eine Blindheit gegenüber der Idee, dass natürlich (😉) alle Einteilungen in geologische Epochen künstlich gewählt sind, d.h. von den Geowissenschaften anhand selbstgewählter Kriterien festgelegt, also entschieden und damit auch anders hätten gewählt werden können. Wissenschaftliche Theorien im allgemeinen und Nomenklaturen im Besonderen sind – was sonst – soziale Wirklichkeitskonstruktionen, die in der Wissenschaftscommunity nach allgemein anerkannten, also zuvor ausgehandelten (!) Regeln ausgehandelt(!)werden – und anschließend ihre Nützlichkeit unter Beweis stellen müssen; wobei auch hier keine klare Beweisführung vorliegt, sondern auch die Bewertung der Brauchbarkeit ein Aushandlungsprozess ist. Der Umstand, dass die „harten“ Wissenschaften in der Regel über härtere Viabilitätschecks (auf der Erde wirkt die Schwerkraft, Stromschläge sind ungesund und chemische Prozesse lassen sich recht verlässlich wiederholen) verfügen, ändert nichts an diesem Umstand. Übrigens auch die „weicheren“ Wissenschaften beschäftigen sich mit harten (=komplexeren) psychischen oder sozialen Phänomenen und auch hier gilt, dass der Streit über die Angemessenheit der Konstrukte auf der Basis der Beobachtung und Neubewertung der Auswirkungen die einzige Möglichkeit ist, „Halt im Haltlosen“ zu finden. Der Streit ist also kein Problem, sondern die Lösung.

Vor diesem Hintergrund ist es nicht nur irritierend, wenn die eigenen Wirklichkeitskonstruktionen nicht mehr passen, sondern immer auch eine Chance, vorübergehende Erkenntnisgewinne zu erlangen. Doch dies ist leichter gesagt als getan, gerade in unseren krisenhafteren Zeiten wird die soziale Einbettung von Wissenschaft und ihre Kopplung mit anderen gesellschaftlichen Teilsystemen, vor allem Politik und Medien, sichtbarer. In dem Artikel wird nämlich weiter ausgeführt, dass die Entscheidung über die Verwendung des Begriffs „Anthropozän“ vor dem Hintergrund verhandelt wird, wie Uneinigkeit in der Community in der Öffentlichkeit wirkt. Wie handeln Wissenschaftler, wenn sie folgendes Argument fürchten: „Wenn sich schon die Wissenschaftler nicht einig sind, kann es um den Planeten ja nicht so schlecht bestellt sein.“? Hier können wir erkennen, dass Wissenschaft- in diesem Falle die Community der Geologen – auch über die Auswirkung ihrer Kommunikationsbeiträge „kontrolliert“ wird und sich unweigerlich in in pragmatische Paradoxien zwischen Systemreferenzen (in diesem Fall: Wissenschaft und Medien / Politik) verstrickt: Das Austragen eines Konflikts ist richtig und falsch zugleich.

Und damit wären wir beim Thema der Führung, denn das, was die Geologen hier vorführen, ist nichts anderes als der Alltag von Führung: Wie können wir den notwendigen Streit über die Angemessenheit unserer Konstrukte (Kennzahlen, Marktstudien, Strategien, Kernkompetenzen …), auf eine Art kanalisieren, dass wir uns selbst mit produktivem Widerstand und produktiven Widersprüchen versorgen und wie können wir zugleich Orientierung, Zuversicht und Sicherheit ausstrahlen – nach innen wie nach außen?