von Torsten Groth und Stefan Günther
Wie gelingt es in Weiterbildungen und Seminaren, grundlegende Konzepte und Theorien in ihrer hohen praktischen Relevanz zu vermitteln? – Vor dieser didaktischen Aufgabe stehen natürlich alle Trainerinnen und Trainer, nicht nur die Anbieter von systemischen Führungs- und Beratungskursen. In der Vermittlung von soziologischen Theorien spitzt sich diese Herausforderung auf eine besondere Weise zu. Die Theorien sind oft so abstrakt, dass sie recht weit über die eigentlichen Seminarinhalte hinausweisen, so zum Beispiel das wichtige und vielschichtige Rahmen-Konzept von Bateson und Goffman. Wie ein Vermittlungs- und Anwendungsversuch sehr eindringlich misslingen und dann doch gelingen kann, zeigt die folgende Geschichte über ein Experiment mit frohlockenden Teilnehmer:innen, recht hilflosen, hungrigen Seminarleitern, nichtbestelltem Eis und erhöhten Erkenntnisgewinnen.
Um Berater:innen und Führungskräften zu verdeutlichen, wie relevant das Rahmen-Konzept von Goffman und Bateson für ihre Praxis ist, haben wir einzelnen Teilnehmergruppen im Rahmen (!) eines Führungskurses in der mittäglichen Seminarpause die Aufgabe gegeben, im Restaurant dosiert übliche „Spielregeln“ (soziale Erwartungen, Benimm-Regeln etc.) zu brechen und dabei mitzubeobachten, wie es ihnen individuell und als Gruppe dabei ergeht, wenn sie Regelbrüche begehen, wie das Restaurant-Personal und das Umfeld reagieren und welche Auswirkungen zu beobachten sind. Zu guter Letzt hatten sie auch noch die Zusatzaufgaben, die Situation für alle von dem Experiment betroffenen Akteure aufzuklären, um sich anschließend der Frage zu widmen, was man aus Erfahrungen und Beobachtungen für die eigene Führungspraxis lernen kann.
Übungen dieser Art sind in ihrer konkreten Durchführung inspiriert von sog. „Krisenexperimenten“, wie sie in den 60iger Jahren in der Soziologie durchgeführt wurden. Punktuell setzen wir von swf solche Experimente ein; sie sprechen das Erleben der Beteiligten an, werden gut erinnert und haben den inhaltlichen Charme, den ganz normalen, funktionierenden Alltag zu nutzen, um zu verstehen, wie sehr die soziale Ordnung geprägt ist von Rollenerwartungen, ungeschriebenen Gesetzen und kulturellen Regeln (… mithin also von dem, was sehr grob mit dem Rahmen-Konzept gemeint ist). Hinzu kommt, dass gerade die kulturellen Regeln meist erst dann sichtbar werden, wenn man gegen sie verstößt, also „aus der Rolle“ fällt. Von diesen Seminarerlebnissen aus ist es dann kein allzu großer Schritt mehr, über geschriebene und ungeschriebene Gesetze in Unternehmen zu sprechen. Konkret zum Beispiel, wie leicht und schnell Innovation, Regelbruch und Kreativität einfordert werden, ohne zu bedenken, wie stark die expliziten und impliziten Übertretungsverbote auf die Einzelnen und die Gruppen einwirken: Schon mal im Restaurant Spaghetti Bolognese mit den Fingern gegessen, die Schuhe ausgezogen?
Zurück zum Seminar mit der Pausenaufgabe. Voller Neugier und Vorfreude, von welchen Erlebnissen uns zum nachmittäglichen Start berichtet wird, gingen wir als Seminarleiter selbst in ein Restaurant, um die Pause zu genießen. Es war Sommer, wir saßen auf einer großen Terrasse (für alle Berliner: „Nola‘s am Weinberg“, jetzt „Cocodrillo“) und konnten im Augenwinkel beobachten, dass eine Seminargruppe auch dort saß. Nun gut, dachten wir, ist doch eine gute Gelegenheit zu beobachten, was diese eine Gruppe aus der Aufgabe macht. Offenkundig, so unser Eindruck, hatten sie einen großen Spaß und riefen die Bedienung zu sich… – Verstehen konnten wir nichts, nur beobachten, dass besonders ein Teilnehmer auf die junge Frau einredete, einen Ausweis zeigte und gleichzeitig auf uns wies, während alle andere recht belustig zuhörten … In der Gewissheit, dass sich ja alles anschließend im Seminar auflösen wird, machten wir uns ans Bestellen – so der Plan.
Dieser Plan ließ sich jedoch nicht umsetzen: Besagte Bedienung bemerkte uns schon, wirkte jedoch verunsichert und machte mehrfach einen Bogen um uns. In Sorge, in der Seminarpause nichts zum Essen zu bekommen, haben wir vehementer eingefordert, dass wir bitteschön bestellen wollen… – Die Bedienung kam aber nicht zu uns, sondern ging direkt zur Seminargruppe, um abermals mit dieser zu sprechen. Anschließend ging sie in die Küche, kam wieder mit zwei Kindereis und servierte uns diese! – Zunächst empört wiesen wir darauf hin, dass wir das Eis nicht nur nicht bestellt hatten, sondern noch gar nichts bestellt hatten. Doch langsam fiel bei uns der Groschen, zumindest so weit, dass wir ahnten, das Verhalten der jungen Frau hat mit unserer Seminargruppe und erwähnter Aufgabe zu tun …
Um die Bedienung zu erlösen und zugleich die Chance zu erhöhen, doch noch ein Mittagessen zu bekommen, bedankten wir uns für das Eis, und erklärten ihr die Situation. Man könnte auch sagen, wir versuchten den Rahmen zu klären: „Wir beide sind Seminarleiter der Gruppe, mit der Sie geredet hatte, … Wir geben ein Führungsseminar und führen in der Pause kleine Experimente durch … Offenkundig war der Witz mit dem Eis Teil des Experiments … usw. Jetzt aber bitte schön würden wir einfach gerne ein Tagesgericht bestellen, einfach das, was schnell gebracht werden kann!“ – Die Bedienung schaute mehr in die Ferne als zu uns, meinte nur lapidar, wir könnten nichts bestellen und lief danach direkt zur Seminargruppe, sprach kurz mit denen, um dann in der Küche zu verschwinden und nicht wiederzukommen.
Soweit die Beschreibung dessen, was wir zum einen erlebt und was wir zum anderen aus der Entfernung von Tisch zu Tisch beobachten konnten. Aber was war die Erklärung? – Einer der Seminarteilnehmer – der mit dem Ausweis – war Oberarzt einer Psychiatrischen Klinik. Er hatte der Bedienung erzählt, wir zwei seien Patienten, die im Rahmen (!) eines Resozialisierungsprogramms einen betreuten Freigang haben. Die Gruppe, Ärzte wie Pfleger:innen, müsse uns dahingehend beobachten, wie es uns gelingt, den Alltag zu meistern, um anschließend ein Gutachten zu verfassen über unsere Integrationschancen in die Gesellschaft. Noch jedoch seien wir nicht geschäftsfähig … – All dies erfuhren wir, als wir letztlich zum Tisch der Seminargruppe gingen, die vor Lachen kaum zum Essen kamen (… aber sie hatten was zu essen). Die bedauernswerte Bedienung wiederum war fort, was uns wirklich unangenehm war, aber der Nachmittag des Seminars war gerettet. Wir hatten alle Fragen im Raum, über die man mit Führungskräften sprechen kann: Was meinen Bateson und Goffman, wenn sie davon ausgehen, dass der Rahmen den Inhalt definiert, welche Rahmenerzählungen, sind so robust, dass sich die Wirklichkeit an diesen anpasst? Was heißt dies z. B. für Organisationslernen, für Führung usw.
p.s.: In der Folgewoche saßen wir wieder auf der Terrasse (… wir saßen oft dort am Weinbergspark in Berlin) und sahen auch die junge Bedienung. Welch ein Glück, dachten wir, eine gute Gelegenheit, in Ruhe, mit Abstand alles aufzuklären. Doch sie weigerte sich weiterhin, uns zu bedienen, und schickte eine Kollegin, der wir alles nochmals versucht haben zu erklären. Sie sagte, sie gibt es weiter …