von Timm Richter
In unseren Seminaren, aber auch im Kontext unseres neuen swf-Buches zum Paradoxiemanagement in Organisationen kommen häufig Fragen wie: Sind (pragmatische) Paradoxien, Widersprüche, Dilemmata nicht irgendwie das gleiche? Muss mein Kunde bzw. meine Organisationen die Unterschiede – wenn sie denn von passionierten Theoretikern getroffen werden – kennen? Lohnt sich überhaupt dieser ganze Aufwand oder ist nicht diese Betonung von Paradoxien eher ein Marketingtrick, der die Konzepte des gesunden Menschenverstandes in manchmal geistreichende bzw. geheimnisvolle, jedenfalls immer kompliziert klingende Formulierungen verpackt, um Aufmerksamkeit zu generieren?

Es kommt drauf an …
Eine erste kurze Antwort: Wer sich bisher gut in seiner Welt zurechtgefunden hat und nichts vermisst, dem kann man nur gratulieren und die Daumen drücken, dass es so bleibt. Und wenn in Organisationen Dilemmata, Widersprüche oder Paradoxien zum Thema werden, dann spricht nichts dagegen, die Begriffe (zunächst) austauschbar synonym zu verwenden, solange man so gute Wege findet, anliegende Probleme zu lösen. Auch kann man z.B. überraschende Effekte, die das Gegenteil von dem bewirken, was beabsichtigt war (z.B.: die Einführung neuer Regeln sorgt nicht für Klarheit, sondern noch mehr Verwirrung), paradox nennen, ohne sich genau darüber zu verständigen, was damit überhaupt gemeint ist, solange die Beteiligten zu allseits akzeptierten brauchbaren Lösungen kommen, kann man beruhigt auf begriffliche Schärfe verzichten. Für die Praxis gilt: interveniere und was auch immer hilft, ist gut!
Leicht anders stellt sich die Situation dar, wenn Führungskräfte oder Beratende über ihre eigene Praxis nachdenken und reflektieren, wie sie Teams bzw. Organisationen beobachten wollen. Je nachdem mit welcher Theorie – und das heißt auch: mit welchem Begriffsapparat man beobachtet, bekommt man nämlich andere Phänomene in den Blick, sieht man mal mehr, mal weniger, in jedem Falle aber anderes, was dann wiederum Folgen für die eigene Führungs- und Beratungspraxis hat.
Was also sieht man, wenn man systemisch-konstruktivistisch und somit paradoxiebewusst als Beobachter Teams und Organisationen beobachtet? Akteure (inklusive Organisationen) wechseln in ihren Wirklichkeitskonstruktionen zwischen Fremd- und Selbstreferenz. Es geht einerseits um Erkenntnis („Was ist der Fall?“) und andererseits um Entscheidungen („Was sollen wir tun?“), also um das Erkennen einer Welt und das eigene Handeln in dieser Welt. Mit Erkenntnis und Entscheidungen wird stets versucht, sich in einer unsicheren Welt zurechtzufinden bzw. (aktiv) dafür zu sorgen, dass es (gut) weitergeht. Diese Zweiteilung hat bereits insofern praktische Relevanz, als dass sie bei Unsicherheit oder Uneinigkeit hilft zu reflektieren, ob diese Unsicherheit als Erkenntnis- oder Entscheidungsproblem gerahmt wird. Und diesen Unterschied kann man (begrifflich) unterstützen, indem man einen Widerspruch von einem Dilemma unterscheidet und beide Begriffe als „Sonde“ für eine Problembeschreibung nutzt.
Widerspruch und Dilemma
Der Begriff des Widerspruchs hat seine Wurzeln eher im Bereich der Erkenntnis, wo es um die Frage wahr oder falsch geht. Ein Widerspruch beruht auf der logischen Prämisse, dass eine Aussage entweder wahr oder falsch ist, und es etwas Drittes nicht gibt. Wenn eine Aussage zugleich wahr und falsch sein soll, dann ist das widersprüchlich. Und solche Widersprüche (der Erkenntnis) gibt es Organisationen zuhauf. Nur zwei Beispiele: eine Organisation hat vielleicht ein SAP-System für Logistik und ein Webshop-System für Verkäufe, die unterschiedliche Zahlen für den Tagesabsatz liefern – widersprüchlich, denn maximal nur eine Zahl kann wahr sein, nicht beide. Oder die eine Abteilung behauptet, dass die Kunden zufrieden sind, die andere das Gegenteil – auch das ist widersprüchlich und passt nicht zusammen. Solche Widersprüche bezeichnet man aber eher nicht als Dilemma. Letzteren Begriff verwendet man meistens, wenn es um Entscheidungen geht, man also nicht so recht weiß, welche von möglichen Wahlalternativen richtig und welche falsch ist, da die Zukunft unsicher ist und Informationen fehlen, um sicher die dann richtige Alternative berechnen zu können. Es gibt Argumente für die eine und die andere Seite, die gilt es abzuwägen.
Zusammengefasst:
- Bei Erkenntnis beobachtet man mit wahr / falsch in Richtung Vergangenheit, Widersprüche möchte man vermeiden, da sie die Konsistenz des eigenen Weltbildes bedrohen.
- Bei Entscheidung beobachtet man mit richtig / falsch in Richtung Zukunft, Dilemmata möchte man vermeiden, da sie die Unsicherheit über die Zukunft (zu) deutlich machen.
Individuen, Teams und Organisationen streben danach, Wahres zu erkennen und Richtiges zu entscheiden, und das ist begrüßenswert und sollte nicht aufgegeben werden, denn wer möchte schon falsch liegen. Oft gelingt das, über Zeit machen wir Erfahrungen und wissen immer mehr. Und jeder kann von Situationen zu berichten, wo richtig entschieden wurde, also geht das doch. Man fühlt sich darin bestärkt, dass wahre Erkenntnis und richtiges Entscheiden möglich sind … so könnte man denken. Bei Schwierigkeiten findet man in der täglichen Praxis oft (immer bessere) Wege, mit Widersprüchen und Dilemmata umzugehen, entwickelt darin eine bewundernswerte Praxis: bei Widersprüchen führt man z.B. weitere Unterschiede ein (im Beispiel oben sind es ja unterschiedliche Systeme oder Personen, da kann man nicht erwarten, dass Zahlen oder Meinungen gleich sind), berücksichtigt den Kontext (Nee, die Chefin ist normalerweise sehr nett, nur unter Stress, da kann sie auch mal sehr ungehalten werden) oder lässt Widersprüche unter den Tisch fallen (Ja, der Herr Meyer, der ist unser Bedenkenträger in Person, den muss man nicht ernst nehmen). Und auch bei Entscheidungen gibt es vielfältige Möglichkeiten sich davon zu überzeugen, dass eine Entscheidung richtig ist, z.B.: man definiert Kriterien, nach denen man Alternativen beurteilen kann, lässt Expertinnen entscheiden, die es besser wissen, oder berücksichtigt alle Bedenken und entscheidet im Konsens.
Wie gesagt, dass funktioniert meistens sehr gut … bis es eben nicht mehr klappt. Dann findet man sich in Situationen wieder, wo Probleme hartnäckig bestehen bleiben, egal was man versucht, wo man die Welt nicht mehr versteht, weil andere Dinge passieren als die, was man erwartet hat, oder man in einen logischen Zirkel gerät. Einige Beispiele dazu:
- Beim 1. FC Bayern mögen manche Angestellte frustriert feststellen, dass nichts ohne Ulli Hoeneß geht, auch wenn er gar keine Ämter mehr innehat.
- Es wurde Selbstverantwortung ausgerufen, aber niemand entscheidet mehr, auch Aufforderungen helfen nicht.
- Laut Grundgesetz sind Parteien, die die Demokratie gefährden, zu verbieten, aber nur, wenn sie relevant sind. Sind sie hingegen aufgrund ihres Stimmanteils bei Wahlen relevant, dann kann man sie nicht mehr verbieten, weil das undemokratisch wäre. Kann und soll Demokratie auf undemokratische Weise gesichert werden?
Und bei Entscheidungen kann es zu einer Blockade kommen, ein Entscheidungsdilemma steigert sich zu einem Entscheidungsnotstand. Dann hat man das Gefühl, dass man sich nur falsch entscheiden kann, egal, was man macht. Z.B.:
- Im Kundenservice: Wenn sich der Servicemitarbeiter an die Regeln hält, wird die Kundin verärgert und beschwert sich. Zeigt sich der Mitarbeiter kulant, werden die Zahlen nicht stimmen und er bekommt auch Ärger. Schwierig.
- In der Beratung: Sagt man, was man denkt, ist der Auftrag weg. Hält man den Mund, verrät man seine eigenen Überzeugungen. Auch schwierig.
Solche hartnäckigen Probleme und Entscheidungsnotstände lassen sich mit Paradoxien erklären und ermöglichen Lösungen, auf die man ohne die Idee der Paradoxie vielleicht nicht gekommen wäre (was trotzdem nicht ausgeschlossen ist). Pointierter formuliert: Wenn man in Führungs- oder Beratungssituationen stecken bleibt, dann kann die Betrachtung mit einer Paradoxiebrille für hilfreiche Bewegung sorgen. Übrigens: auch der gelingende Umgang mit Widersprüchen und Dilemmata kann als praktiziertes Paradoxiemanagement verstanden werden, nur mit dem Unterschied, dass die Beteiligten nie behaupten würden, dass sie in ihrer Praxis Wege finden, um fundamentale Paradoxien der Erkenntnis und des Entscheidens unsichtbar zu machen. Mit dem Wissen um Paradoxien im Hinterkopf kann man aber auch bei Widersprüchen und Dilemmata möglicherweise wirksamer intervenieren, ohne die eigene Theorie thematisieren zu müssen – Paradoxiebewusstheit lohnt sich auch hier.
Die Paradoxie
Doch der Reihe nach, jetzt gilt es erst einmal, einen präziseren Begriff der Paradoxie zu formulieren, um danach zu sehen, welchen Unterschied er beim Versuch macht, Wahres zu erkennen und richtig zu entscheiden.
Luhmann versteht unter einer Paradoxie
einen Gegenstand einer Beobachtung, die den Beobachter zum endlosen Oszillieren zwischen zwei Positionen zwingt.
Genauer formuliert zwingt der Beobachter sich durch die Art seiner Beobachtung selber, zwischen den Positionen zu oszillieren. Damit wird eine Paradoxie als Beobachterphänomen definiert. Was dem einen Beobachter paradox erscheint, kann für einen anderen Beobachter vollkommen logisch sein (in dessen Logik!); wo der eine Beobachter in Entscheidungsnot gerät, wundert sich ein anderer, was das Problem sein soll. Den linken Arm vorwärtszudrehen und den rechten Arm rückwärts, hört sich einfach an, für viele Meschen ist die Aufforderung, dies gleichzeitig zu tun, eine paradoxe Handlungsaufforderung (einfach mal ausprobieren). Eine wichtige Konsequenz aus dieser Paradoxiedefinition ist es, den Beobachter (die Mitarbeitenden, das Team, die Organisation) in ihrer Eigenlogik und Wirklichkeitskonstruktion ernst zu nehmen. Eine bestens bekannte Konsequenz des Konstruktivismus, die man aber gar nicht genug betonen kann. Das Beispiel der gymnastischen Übung zeigt auch, dass Paradoxien als Beobachterphänomen eben ein Phänomen der Beobachtung sind und keines der Handlung. Denn – um im Bild der Übung zu bleiben – irgendetwas macht man nach der Aufforderung, beide Arme gegenläufig zu drehen – in der Handlungspraxis ist also alles immer schon (irgendwie) gelöst. Die Frage bleibt: geht es – für den Beobachter – anders besser?
Ohne Paradoxiebewusstheit im Streben nach Wahrheit und Richtigkeit geht man häufig von der stillschweigend akzeptierten Prämisse aus: es geht nicht nur besser, sondern zu der einzig wahren Realität kann man einzig wahre Situationsbeschreibungen finden, die die Basis für richtige Entscheidungen sind. Und wenn manchmal wegen praktischer Erfahrungen etwas relativiert wird, so sind die wenigsten tief in ihrem Herzen bereit, die Idee nach erkennbarer absoluter Wahrheit und der richtigen Entscheidung aufzugeben. Paradoxiebewusst kann man feststellen: und genau das ist das Problem, das gelingender Praxis im Wege steht!
Erkenntnis („Was ist der Fall“) und Entscheidung („Was ist zu tun?“) – so die These mit radikalen Konsequenzen – sind im Sinne der obigen Definition inhärent paradox fundiert, das Wahre führt zum Falschen, das Richtige ist gleichzeitig auch falsch und umgekehrt. Wenn man so beobachtet, kommt es zur (endlosen) Oszillation zwischen zwei Positionen.
Die paradoxe Fundierung von Erkenntnis und Entscheidung stellen wir ausführlich in unserem Buch dar, im Kasten hier findet sich eine Kurzfassung:
Erkennen bedeutet, sich ein Bild zu machen, eine Wirklichkeit zu konstruieren, ein vereinfachtes Modell der komplexen Welt zu haben. Das Modell (unsere Wirklichkeitskonstruktion) wird mit dem Modelliertem (der Welt) identifiziert, gleichgesetzt. Ein Modell ist wahr und falsch zugleich – paradox! Modelle vereinfachen, sind also immer falsch, aber weil sie der einzige Weg sind, die zu komplexe Welt zu begreifen, sind sie für uns wahr. In der Praxis relativieren wir unsere Wirklichkeitskonstruktionen, indem wir sie vom Kontext abhängig machen. Wir sind sehr gut darin, unbewusst bzw. unerwähnt Kontext Switching zu betreiben und unsere verwendeten Modelle entsprechend zu wechseln. Rahmungen (=Setzungen) sorgen für (vorübergehende) Paradoxiefreiheit: unter den Annahmen der Rahmung passt es, aber die ausgeblendete Frage bleibt, ob der Rahmen passend ist? Durch dieses praktisch notwendige Vorgehen verdecken wir die mögliche Erkenntnis, dass dieses Patchwork an Modellen logische Inkonsistenzen hat, dass uns ein konsistentes und vollständiges Weltmodell nicht möglich ist. Mit dieser Erkenntnis aber wird jede Erkenntnis kontingent: sie muss so nicht sein, sie ist auch anders möglich[1].
Ähnlich grundlegend sind Entscheidungen paradox: wäre es (mit entsprechenden Informationen) ausrechenbar, welche von zwei Alternativen die bessere, also die richtige ist, dann bräuchte man nicht zu entscheiden. Eine Entscheidung zeichnet sich per Definition dadurch aus, dass die zwei Wahlmöglichkeiten valide Alternativen sind – sonst gäbe es nichts zu entscheiden – und zugleich keine Alternativen sind – sonst könnte man nicht entscheiden. Das Paradoxe an der Entscheidung ist, dass man (aufgrund fehlender Erkenntnis) nicht weiß, was richtig ist, und genau deswegen so tut, als ob man wüsste, was richtig ist[2]. Die Handlungsaufforderung „Entscheide!“ enthält (implizit) eine widersprüchliche doppelte Botschaft, nämlich „Behandele beide Alternativen als gleichwertig!“ und „Bevorzuge eine Alternative durch Auswahl. Meistens gelingt es uns, diese pragmatische Paradoxie, zwei Dinge gleichzeitig tun zu sollen, die sich (für den Beobachter) ausschließen, zu verdecken. Wenn es zu einem „Entscheidungsnotstand“ kommt, dann wird die pragmatische Paradoxie problematisch.
Zusammenfassend können wir feststellen: Auch mit einer Paradoxiebrille sucht man weiterhin nach Wahrheit und Richtigkeit, geht aber davon aus, dass sie unerreichbar sind. Paradox. Die Folge für Führungskräfte und Beratende: Paradoxiebewusstheit nimmt Gewissheit und schafft dadurch Spielfähigkeit auch in schwierigen, festgefahrenen Situationen; sie schärft den Blick auf die relevantesten paradoxieanfälligen „Problemzonen“ sowie die praktischen „Tricks“, mit denen Personen, Teams und Organisationen auf bewundernswerte Weise ihren paradoxen Alltag meistern. Genau darüber schreiben wir ausführlich in unserem Buch zum Paradoxiemanagement, an dieser Stelle einige Andeutungen, was diese Paradoxiebewusstheit konkret bedeutet:
Aufgabe der Lösungsillusion
Luhmann hat einmal gesagt: „Die größte Gefahr in der Politik geht von denen aus, die es gut meinen.“ Ähnlich könnte man formulieren: „Schwer haben es die, die es richtig machen wollen.“ Der Anspruch ist zu begrüßen, allein setzt man sich damit dem Risiko aus, den Lösungsraum bis zur Unmöglichkeit zu verkleinern. Mit einer Paradoxiebrille hingegen erkennt man eine prinzipielle Unmöglichkeit, eine Situation wahrhaftig einschätzen und richtige Schlüsse ziehen zu können. Und genau dadurch gewinnt man Handlungsspielraum, weil eine „Lösung“ weder perfekt sein noch für die Ewigkeit halten muss. Man räumt sich so die Chance ein, kreative Wege zu finden, die zumindest vorübergehend die Lage verbessern. In diesem Denkmodus kann es eher gelingen, gelassen, mit ein wenig Demut und Chuzpe, Situationen anders zu lesen und weitere Möglichkeiten des Handelns zu entdecken. Nichts anderes ist mit der Idee der Spielfähigkeit gemeint.
Fokus auf paradoxieanfällige „Problemzonen“.
Paradoxien finden sich in Organisationen überall. Als allererstes und im Kern als basale Operation geht es in Organisationen immer um Entscheidungen. Um eine Organisation zu verstehen, lenkt man paradoxiebewusst die Aufmerksamkeit auf die Frage, wie in dieser Organisation entschieden wird und wann eine Entscheidung eine Entscheidung ist … immer mit der Prüfung, ob andere Formen der Entscheidungsfindung angemessener sein könnten.
Die Paradoxie der Erkenntnis zeigt sich in Organisationen in der Form, dass sie ihr Außen, also ihre Sicht auf die Welt, auf Märkte, Kunden, Wettbewerber, Lieferanten, etc. im Innen selbst erzeugen. Paradoxiebewusst achtet man darauf, wie genau diese Konstruktion stattfindet, welche Signale aufgenommen, verstärkt oder missachtet werden, immer mit der Idee, dass dies auch anders möglich wäre. Ähnliches gilt für die paradoxe Konstruktion von Zeit: Vorstellungen von Vergangenheit und Zukunft werden paradoxerweise in der Gegenwart erzeugt (und könnten immer auch anders sein). Insofern reflektieren Führung und Beratung, was erinnert und imaginiert wird oder auch, ob die Zeithorizonte in Vergangenheit und Zukunft angemessen weit gefasst sind.
Organisationen gewinnen Stabilität durch (Erwartungs)strukturen. Gleichwohl werden sie paradoxerweise – jeden Tag dynamisch stabilisiert und könnten immer auch anders sein (wie schnell so etwas geht, kann man gerade in den USA beobachten). Erwartungsstrukturen zeigen sich als Entscheidungsprämissen, die den Entscheidungen in Organisationen einen Rahmen geben. Genau deswegen sollten entscheidbare und unentscheidbare, formale und informale Entscheidungsprämissen in den Blick genommen und auf Angemessenheit überprüft werden.
Und letztlich geht es in Organisationen immer um Beziehungen und damit um Kopplungsphänomene. Organisation – Team – Teammitglieder, Führungskraft – Mitarbeitende, verschiedene Teileinheiten in Organisationen, Organisation – Beratung, Organisation Kunde … als dies sind relevante Beziehungen, die als eigenständige Systeme jeweils getrennt sind, und die man genau deswegen in einer Beziehung wieder verbinden muss. Paradoxiebewusst achtet man darauf, wie (unterschiedlich) diese Beziehungen konstruiert und gestaltet werden.
Oft werden Probleme in Organisationen auf fehlende Kommunikation, mangelndes Vertrauen oder das falsche Mindset zurückgeführt. Damit bleibt man allerdings recht unspezifisch und oberflächlich. Nützlicher kann es sein, beobachtbare Phänomene mit den hier genannten Grundparadoxien in Organisationen, nämlich der basalen Operation der Entscheidung der Selbsterzeugung mit einem Innen erzeugten Außen, der dynamischen Stabilisierung über Entscheidungsprämissen und der innen erzeugten Konstruktion von Zeit sowie der Kopplung mit relevanten Umwelten zu erklären, mit denen auf einer tieferen konzeptionellen Ebene immer zu rechnen ist – wenn man die Paradoxiebrille aufsetzt. So könnte z.B. fehlende Kommunikation zwischen Abteilungen eine Form sein, Autonomie und Koordinierung zu balancieren, mangelndes Vertrauen auf Unterschiede in den Zeithorizonten der Beteiligten hinweisen oder das falsche Mindset produktiver damit erklärt werden, dass (implizit) paradoxe Handlungsaufforderungen an Mitarbeitende ausgegeben werden. Die Orientierung an Grundparadoxien kann als als Sonde dienen, um frühzeitig mögliche zukünftige Konfliktlinien zu identifizieren, denn die genannten Grundparadoxien, die sich nicht vermeiden lassen, führen dazu, dass es irgendwo in der Organisation problematisch wird.
Anwendung bewährter Heuristiken in Führung und Beratung
In einer paradoxiebewussten Praxis verändert sich die Form der Beobachtung. Führungskräfte und Beratende hören nicht nur, was gesagt wird, sondern sie beobachten, mit welchen Unterscheidungen Teams oder Organisationen (implizit) arbeiten. Wenn z.B. von Innovation gesprochen wird, woran erkennt man sie und was ist auf der anderen Seite, wie sieht Nicht-Innovation aus? Oder wenn von Problemen gesprochen wird, wodurch unterscheiden sie sich von Lösungen? Denn wer ein Problem hat, muss auch eine Idee einer Lösung haben, Problem und Lösung definieren sich paradox gemeinsam als Einheit einer Differenz. Sobald solche Unterschiede identifiziert wurden, bieten sich sofort Spielmöglichkeiten, durch andere Unterscheidungen z.B. das Verhältnis von Innovation und Nicht-Innovation oder Problem und Lösung zu verändern.
Die Beobachterabhängigkeit der Paradoxiedefinition führt in der Praxis auch dazu, viel stringenter nach der Systemreferenz zu fragen, also z.B.: Wer hat überhaupt ein Problem Mitarbeitende, ein oder mehrere Teams, die Organisation? Auf die Festlegung der Systemreferenz folgt sogleich die Klärung, wie dieses System sich seinen Kontext, also das Außen, konstruiert, also erkennt. Und als Beobachter 2. Ordnung, als Führungskraft oder Beratende, kann man prüfen, ob es vielleicht weitere relevante Kontexte gibt, die möglicherweise ausgeblendet oder nicht gesehen werden. Die oben genannten Grundparadoxien helfen als Heuristik, wo man suchen kann. Es ist erstaunlich zu beobachten, wie oft diese Grundfrage der Systemreferenz und des Kontextes ungeklärt bleiben – was andererseits eben die Möglichkeiten eröffnet, hier wirksam zu intervenieren.
Entscheidungsfähigkeit und brauchbare Erkenntnis werden letztendlich immer durch Unterscheidungen erzeugt. Deswegen drehen sich Führungs- und Beratungsarbeit stets darum, (weitere) Unterschiede zu (er)finden, mit denen Situationen (anders) beschrieben, erklärt und bewertet werden bzw. sich neue Handlungsmöglichkeiten eröffnen. Die in unserem Buch genannten Werkzeuge des paradoxiebewussten Arbeitens, z.B. Aspekte und Dimensionen von Wirklichkeitskonstruktionen, das Tetralemma oder der Paradoxiezirkel, sind verschiedene Ansatzpunkte der Unterschiedsbildung. Die Konstanten des paradoxiebewussten Arbeitens sind im Kern die (a) die Systemreferenz, (b) das rahmende Außen des Kontextes und (c) die Entfaltung im Innen durch Unterschiede.
- Das ist nicht das Gleiche wie ein „Anything goes“ Relativismus, und auch nicht die Aufhebung der Kategorie wahr / falsch. Menschen sind sich in ihrer Welterfahrung ähnlich genug, als dass sie bestimmte Tatsachen als wahr annehmen – die Schwerkraft z.B. oder die Kategorisierung von physikalischen Objekten – ohne dass man ihre Allgemeingültigkeit beweisen und die Beobachterabhängigkeit aufheben könnte. Die Erfahrung lehrt, dass manche Dinge für uns (bisher) nicht gehen. Wahrheit wird dadurch definiert, dass es sozial akzeptierte Methoden gibt, mit denen auf Wahrheit geprüft wird. Diese Methoden ändern sich mit der Zeit. ↩︎
- Und auch hier heißt dies nicht, dass alles beliebig ist: es gibt Alternativen, die sich ex ante für viele offensichtlich oder nach kurzer Prüfung als keine ernsthaften Alternativen herausstellen. Insofern ist die Abwägung und Prüfung vor Entscheidungen sinnvoll, gibt es Unterschiede in der Einschätzung, welche Alternativen in der Zukunft sich eher als richtig erweisen könnten. Nur: Sicherheit, die gibt es eben nicht und deswegen muss entschieden werden. ↩︎