„Schön locker machen…“

Gerlinde Schein, Barbara Vogel

Wie zwei Großunternehmen auf beeindruckend unaufgeregte Weise New Work nutzen und es nicht New Work nennen.

Wie navigiert man „ordentlich“ durch einen Change-Prozess? Die meisten Ansätze sehen klare Visionen und Zielbilder vor, bündeln Energien, ordnen in Projektstrukturen, benennen Change Agents. Genau das haben zwei von uns beforschte Unternehmen aber nicht getan. Sie haben sich vielmehr unaufgeregt auf den Weg gemacht. Für ihre Reisen wurden keine visionären Ziele formuliert, keine Reiserouten vorgegeben. Stattdessen sorgte man dafür, dass kleinere und größere Expeditionsteams erkunden konnten, was sich wie neu organisieren ließ. Sie ließen das „Driften beim Navigieren“ bewusst zu, um einen Buchtitel von Fritz B. Simon und Gunthard Weber ein wenig schräg zu zitieren.

Wir sind im Rahmen des Forschungsprojekts „New Organizing“ auf diese beiden Unternehmen gestoßen. Die Geschichte dahinter begann 2019 in Wien, als sich 40 Forscher:innen ihre Erkenntnisse und Hypothesen zu den Studien vorstellten. Dabei entdeckten wir in den von uns beforschten zwei Organisationen spannende Parallelen. Muster, die im Zusammenspiel aus strategischer Rahmung und Entrepreneurship entstanden sind. Im Folgenden beschreiben wir Kernelemente dieser Muster und stellen ausgewählte Learnings vor.

New Organizing – Empirie trifft Theorie

Was passiert, wenn größere Unternehmen Konzepte der Organisationsgestaltung einführen, die gerade im Trend liegen? – Mit Blick auf den Abschluss unseres gleichnamigen Forschungs- und Buchprojekts laden wir ein zu einer Expedition in die Welt des „New Organizing“. Wie auch im Herausgeberband werden die Beitragsautor:innen regelmäßig  – bis zur Veröffentlichung im Oktober – Einblicke in die Innenwelt von Konzernen und größeren Organisationseinheiten geben, die sich mit der Einführung neuer, „agiler“ Methoden bis hin zu neuen Organisationsformen befassen. Ergänzend werden Theorie- und Forschungshintergründe präsentiert und vor allem Ausblicke gegeben, worauf Führung und Beratung zukünftig zu achten haben, wenn sie neue Organisationsansätze parallel zu vorhandenen Konzernstrukturen wirksam einführen möchten.

Die Ausgangssituation  

Der Blick ging in zwei traditionsreiche Organisationen. Beide agierten über Jahrzehnte erfolgreich am Markt – bis das Kerngeschäft durch technologische und soziale Veränderungen massiv bedroht wurde. Die Veränderungsnotwendigkeit war klar. Um auch in Zukunft erfolgreich zu bleiben, galt es Identität und sinnstiftenden Grundauftrag („Purpose“) zu hinterfragen bzw. neu zu erfinden. In beiden Organisationen erkannte man zudem, dass sich an der Art des Organisierens wie der Zusammenarbeit etwas ändern musste – um möglicherweise in radikal neuer Weise auf die Anforderungen ihrer jeweiligen Märkte reagieren zu können.

Fünf beobachtete Muster

Im Vergleich der beiden Veränderungsprozesse tauchten interessante Parallelen auf:

1. Die Unternehmensleitung weiß nicht alles und erlaubt Vielfalt

Von der Spitze gibt es einen Rahmen und Maximen, aber weder ein formuliertes Ziel noch einen Masterplan. Zu den postheroischen Praktiken der Führung gehören partizipativere und nach unten verlagerte Entscheidungsprozesse, Sounding Boards für die Resonanz aus der Mitarbeiterschaft, eigene iterative Suchprozesse der Leitung und Ermutigungen für Suchbewegungen der Mitarbeitenden. Vor allem aber gibt es hohe Freiheitsgrade und Absicherungen für die Expeditionsteams in der Organisation. So entsteht Entrepeneurship in einem Prozess, den David J. Collis als „Lean Strategy“ beschreibt: „Entrepreneurship – empowered local experimentation – allows a firm to explore the right innovations and continually refine them to better fit the market.” Die Innovationen in unseren Fällen: eine Vielfalt an Formen des New Organizing. 

2. Man klebt keine schicken Labels drauf

In vielen Unternehmen scheint es immer noch angesagt zu sein, die eigene Agilität ins Schaufenster zu stellen. Nicht jedoch in unseren Fällen. Die spezifischen Experimente werden selten oder gar nicht gelabelt. Es gibt Selbstorganisation, ohne dass „Laloux“ angeführt wird. Man arbeitet mit Scrum und Kanban, mit agilen Road-Maps und kurzzyklischen Priorisierungen, ohne sich zur agilen Gesamtorganisation zu erklären. Man definiert Rollen und Entscheidungskompetenzen neu, ohne sich auf das Framework von Holacracy zu beziehen. Man lässt sich inspirieren und findet eigene Lösungen. Es gibt also kein methodisches Rahmenwerk, was manche der Mitarbeitenden beunruhigt – bei vielen aber auch Motivation und Entwicklungsgeist triggert.

3. Es gibt neue wichtige Personen im Spiel

Wenn Entscheidungsprozesse nach unten verlagert werden, steigt die Bedeutung der Peripherie. Teams und einzelne Personen werden sichtbarer und tragen mehr Verantwortung. Viele Führungskräfte schieben den Kontroll-Regler postheroisch nach unten, geben Sicherheit und Rückendeckung. Interne Expert:innen mit Methodenkompetenz treten auf die Bühne. Wissen wird in osmotischen Prozessen weitergegeben: Man zieht sich aktiv, was man braucht. Auch hier steht Pragmatik vor Dogmatik.

4. Teams werden dynamisch, Netzwerke blühen 

In beiden Unternehmen wird die hierarchische Struktur gelockert, um beweglicher zu werden. Dezentralität und horizontale Vernetzung wird verstärkt. Projekte und crossfunktionales Arbeiten gewinnen an Bedeutung. Lose gekoppelte informale Netzwerkstrukturen sind zu beobachten, die teilweise aus den Organisationen herauswachsen – z.B. für die kollegiale Fallberatung von agilen Coaches. Auf Teamebene entstehen neue dynamische Teamstrukturen, in denen nicht mehr die Personen ein Team definieren, sondern die Aufgabe. 

5. Lokale Einheiten testen verschiedene Veränderungen

Ausprobieren. Testen. Schauen, was funktioniert. Früh beenden, was nicht funktioniert. Den nächsten Schritt gehen. Diese Art von Change impliziert, dass Kurs-Entscheidungen sehr viel dezentraler gefällt werden. In den vielen kleinen Entscheidungen zur Überlebensfähigkeit einzelner Ansätze formt sich emergent eine neue Strategie: „The sum of all these independent choices gradually alters the company´s position and determines the exact form the strategy takes over time.” (David J. Collis)

Was kann Führung aus unseren Fällen lernen?

Hier drei erste Empfehlungen für all jene, die sich auf emergentes New Organizing einlassen wollen:

1. Erwarte das Unerwartbare

Führung sollte den Rahmen für den Suchprozess aufspannen. Innerhalb dieses Rahmens gilt dann, dass Unterschiedliches, Eigensinniges, Ungewöhnliches entstehen darf. Aufgabe von Führung ist es auch, dem Neuen Zeit und Schutz zu bieten, um sich entwickeln und weiterentwickeln zu können.

2. Bleib achtsam I

Einzelne Akteur:innen werden unter Spannung geraten. Sie werden sprichwörtlich zum Austragungsort der organisationalen Spannungen. Entlastung kann für Einzelne wichtig werden – zum Beispiel durch kollegiale Beratung oder (Peer-)Coaching.

3. Bleib achtsam II

Schnittstellen werden virulent. Altes trifft auf Neues, Exploitation auf Exploration. Neue Spaltungen können entstehen, und Gegensätze können sich verfestigen. Für die Entwicklung wichtig sind Meta-Kommunikation und gutes Konfliktmanagement.


Mehr zu den Fällen und Mustern sowie Learnings findet sich in:  

Feneberg, P., Odenthal, C., Vogel. B. (2021): Stabilagil – Eine etablierte Medienanstalt im experimentellen Suchmodus, 
und 
Jager, J. / Schein. G.  (2021): Unaufgeregte Lockerungsübungen – Ein Mobilitätsdienstleister führt Neues ein, ohne das Alte über Bord zu werfen. 

Beide in: Groth, T., Krejci, G., Günther, St. (2021) (Hrsg.): New Organizing. Wie Großorganisationen Agilität, Holacracy & Co. einführen – und was man daraus lernen kann. Heidelberg: Carl Auer, Kap. II. 6  & Kap. II. 7   – im Erscheinen

Weitere Literatur:

Collis, D.J. (2016): „Lean Strategy”, Harvard Business Review 94, No.3, March 2016, 62–68.

Simon, F.B., Weber, G. (2017): Vom Navigieren beim Driften. Heidelberg: Carl Auer.


Das Buch „New Organizing. Wie Großorganisationen Agilität, Holacracy & Co. einführen – und was man daraus lernen kann“ erscheint Anfang Oktober 2021 im Carl-Auer Verlag. Vorbestellungen sind hier möglich. Am 1. Oktober 2021 findet außerdem unsere Online-Tagung zum Buch statt. Weitere Informationen gibt es hier.