Vom Umgang mit Hierarchie in agilen Kontexten

von Timm Richter

Wenn wir in unserem Kurs »Der systemische Dreh für Agilität, New Work & Co. systemtheoretisch auf Agilität blicken, ist Hierarchie natürlich ein heißes Thema. Hierarchie wird als das angesehen, was man bei einer agilen Transformation gerne überwinden möchte. Jurgen Appelo, bekannter Vor- und Mitdenker der agilen Szene, ist da bei seinem unFIX Modell zur Beschreibung von Organisationsstrukturen, das er im Januar diesen Jahres veröffentlicht hat, bereits einen Schritt weiter. Grund genug, unser eigenes Denken an dem Modell zu spiegeln.

Jurgen Appelo versteht sein Modell als Designbaukasten, mit dessen Hilfe man Klarheit über das eigene Organisationsdesign gewinnen kann. Dabei werden Bausteine und Designelemente vorgegeben, die sich aus seiner Erfahrung in der agilen Praxis bewährt haben. Gleichzeitig bleibt das Modell aber so flexibel, dass deutlich weniger normative Vorgaben im Vergleich zu z.B. SAFe, LeSS oder dem Spotify-Modell gemacht werde – deswegen eben der Name „unFIX“. Jurgen Appelo macht so agile Organisationsprinzipien auf einer abstrakteren Ebene grafisch ansprechend sichtbar.

Wie bei agiler Organisation zu erwarten, ist das Team (er nennt es Crew) das zentrale Organisationselement, gut sichtbar in der Darstellung seiner sogenannten Base, die immer aus verschiedenen Teams zusammengesetzt ist. Eine Base bündelt eine gewisse Anzahl von Mitarbeitenden – in der Regel 100 bis mehrere hundert -, die eine mehr oder weniger starke gemeinsame Ausrichtung haben.

Die Base aus dem unFIX Modell von Jurgen Appelo

Alle Details dazu, wie so eine Base aufgebaut sein kann, finden sich auf unfix.work. Ich möchte mich in diesem Post auf die hierarchischen Elemente konzentrieren, die Jurgen Appelo als notwendig erachtet, denn diese werden Verfechter von agilen Arbeitsweisen überraschen. Er sagt:

  • Eine Base braucht eine Governance Crew, die gegenüber allen anderen Teams weisungsbefugt ist. Die Mitglieder dieser Crew sind die einzigen, die disziplinarische MA-Verantwortung haben
  • Teams (= Crews) brauchen einen Teamcaptain, der das Team nach außen vertritt und für die Außenwelt (z.B. die Governance Crew) als klare Adresse für das Team fungiert
  • Sobald die Organisation größer wird, werden mehrere Bases verbunden, und zwar dadurch, dass sie wiederum durch ihre Governance Crews nach außen vertreten werden

Mit diesen Designentscheidungen bzw. -vorgaben sorgt Jurgen Appelo dafür, dass zwei wesentliche Funktionen von Hierarchie auch in seinem unFIX Modell zur Verfügung stehen. Zum einem, und dass schient mir am Wesentlichsten zu sein, hat die Governance Crew eine Letztentscheidungsfunktion. Wiewohl die einzelnen Teams sehr eigenständig arbeiten sollen, so gibt es trotzdem eine Instanz, die im Zweifelsfall formal Entscheidungen treffen kann. Damit steigt die Chance, dass eine Base immer handlungsfähig bleibt. Diese Handlungsfähigkeit wirkt nach Innen in Richtung eigene Teams und nach außen in Richtung anderer Bases.

Mit der Rolle der Teamcaptains wird darüber hinaus das (hierarchische) Prinzip der Delegation implementiert. Eine Person kann im Namen anderer verbindlich als Vertreter:in handeln. Auch damit wird die Chance auf Handlungsfähigkeit erhöht, da nicht jede mit jedem über alles sprechen muss.

Interessant ist, das Jurgen Appelo sehr vehement disziplinarische Verantwortung von Teamcaptains ablehnt. Nur die Mitglieder der Governance Crew entscheiden über Einstellungen, Entlassungen, Beförderungen, etc. Das hat Konsequenzen. Wenn die Base größer ist, sind die Mitglieder der Governance Crew für sehr viele Mitarbeitende verantwortlich, bei 3 Mitgliedern und 150 Mitarbeitenden wären das schon 50 pro Person. Eine individuelle Führungsleistung, die bei der persönlichen Entwicklung von Mitarbeitenden unterstützt, ist bei solchen Verhältnissen gar nicht mehr möglich – da sind die Mitarbeitenden auf sich allein gestellt bzw. können nur auf die informelle Unterstützung von anderen hoffen. Auch bedeutet der Verzicht auf ein mittleres Management – genau betrachtet – eine Verstärkung von Hierarchie! Denn es wird mehr formale Macht in der Governance Crew gebündelt, sie kann – so sie denn möchte – viel leichter „durchregieren“. Wenn ein mittleres Management oft als „Lehmschicht“ bezeichnet wird, dann ist dies ein Hinweis auf die – negativ konnotierten – Verhältnisse, wo es unterschiedlichen Zuständigkeiten und mithin Abstimmungsbedarfe, also Check & Balances gibt. Es ist davon auszugehen, dass diese Aushandlungsprozesse und -bedarfe ohne formelles mittleres Management informell stattfinden werden. Die Governance Crew wird gar nicht die Zeit haben, sich überall einzumischen, daher werden sich in der Praxis informelle Einflüsse, mithin informelle Hierarchie ausprägen.

In jedem Fall ist schön zu sehen, dass Hierarchie im unFIX Modell nicht tabuisiert, sondern pragmatisch genutzt wird. Und klar, der Teufel steckt im Detail, vor allem in den Fragen, die (bewusst?) offen bleiben und in der Praxis dann doch noch (wie?) entschieden werden müssen, z.B.:

  • Wer bestimmt den Teamcaptain?
  • Welches Vertretungsmandat hat ein Teamcaptain?
  • Wie entscheidet die Governance Crew ihre internen Konflikte?
  • Wie wird im Konflikt zwischen mehreren Bases entschieden?

Wie in allen Organisationen werden diese genannten Entscheidungen im Spiel zwischen formalen Vorgaben, ungeschriebenen Regeln und den beteiligten Persönlichkeiten immer wieder neu ausgehandelt. Wer dabei formale Hierarchie als ein mögliches Element zulässt, hat auf jeden Fall formale Eskalations- und Delegationsmöglichkeiten gewonnen, um Handlungsfähigkeit zu unterstützen.