von Torsten Groth
Den Gutteil meiner Kindheit – mit „gut“ sind hier die Ferien und viele Wochenenden gemeint – habe ich gemeinsam mit meinem Bruder auf dem Bauernhof meiner Großeltern verbracht. Als anlässlich der Veröffentlichung unseres Buchs „Wirksam führen mit Systemtheorie“[1], mein Kollege Tim Richter und ich in dem Podcast „Good Work„[2] von Jule Jankowski nach frühesten Führungserfahrungen befragt wurden, war ich zunächst ratlos und recht froh, dass Timm zuerst antwortete. Und wie das so ist in Live-Aufnahmen, es ratterte im Kopf, Szenen der Schule fielen mir ein, klägliche Führungsversuche durch Lehrer:innen, erste Erfahrungen als noch junger Basketballtrainer, Aushilfsjobs mit spannenden Anekdoten etc., doch nichts von dem recht Vielem, das einem in solchen besonderen, zugleich kurzen wie langen Sekunden alles schemenhaft einfällt, schien besonders erwähnenswert. Plötzlich jedoch fielen mir Szenen ein, die ich zuvor nie unter Führungsgesichtspunkten gesehen hatte, und die – man ahnt es bei dem Einstieg – mit den Erlebnissen auf dem Bauernhof zu tun haben.
Mein nur ein Jahr älterer Bruder Michael und ich waren um die 16 oder 17 Jahre alt (also jung) und für wenige Tage in der Alleinverantwortung für den Hof besagter Großeltern. Hintergrund war eine besondere Feier bei nahen Verwandten in der damaligen DDR. Nach jahrelangem Drängen meiner Oma ließ sich mein Opa endlich darauf ein, doch nun für mehrere Tage nach Leipzig zu fahren (… und damit zum erstem Mal nach drei Jahrzehnten den Hof über Nacht zu verlassen). Da auch meine Eltern nebst Onkel und Tante zur Feier fuhren, blieben Michael und ich übrig als diejenigen, die einen kleinen Hof mit 20 Kühen, ähnlich vielen Jungviechern, Kälbern, Schweinen, Enten und Gänsen sowie zwei Katzen und einem Hund „führen“ durften ( …um die Eule, die irgendwie zum Hof gehörte, wie auch die Mäuse, die man immerzu irgendwo nagen hörte, musste man sich nicht auch noch kümmern).
Da wir regelmäßig auf dem Hof waren, kannten Michael und ich alle Abläufen recht gut: Welche Tiere benötigen wann wieviel von welchem Futter, was ist auf den Feldern zu tun, wann kommt der Melkwagen vorbei, wann der Bäcker – jaja, damals auf dem Land fuhr der Bäcker mit seinem Kombi persönlich durchs Dorf … . Sorgen bereitete uns einzig das Melken der Kühe. Einerseits, weil dies das Terrain meiner Oma war und wir dies nie zuvor getan hatten, und andererseits, weil die Kühe ihre Nichttrivialität besser ausleben konnten als zum Beispiel die Schweine, die tagein-tagaus im Stall eingepfercht waren. Die Kühe hingegen grasten und dösten von Frühling bis Herbst auf den umliegenden Weiden und mussten einzig zum Melken in den Stall geführt werden.
Hierbei bestand die besondere Aufgabe darin, genau darauf zu achten, welche Kuh durch die linke Hoftür und welche durch die rechte Hoftür ging (siehe Bild). Warum? – Nun, einmal weil das Gebäude mehr als 250 Jahre alt war und sich hieraus baulich eine Zweiteilung des Melkstalls ergab und vor allem, weil – salopp gesprochen – Kühe irgendwie auch nur Menschen sind: Die eine Kuh kann nicht mit der anderen, die alternde Leitkuh ist verstrickt in Nachfolgekonflikte, jede Kuh hat Vorlieben und Gewohnheiten, und wenn erstmal zu vieles durcheinander ist, dann gibt es eine lautes Gemuhe mitsamt großem Gerangel, und es wird schwer mit dem Anbinden und dem anschließenden Melken.
Im normalen Alltag, eigentlich über Jahrzehnte schon, wurde dieses Problem dadurch gelöst, dass mein Opa die Kühe hütete und meine Oma zwischen den Türen stand, jede Kuh beim Namen nannte und mit einem Stock einwies, so dass diese den richtigen Eingang findet. Mein Bruder und ich kannten die Kühe jedoch nicht gut (und die Kühe uns nicht), so dass wir uns viele Gedanken machten, wie wir dieses Führungsproblem lösen sollten. Unsere Großeltern sicherten uns (oder sich?) dadurch ab, dass sie den befreundeten Nachbarn fragten, ob er uns nicht unterstützen könne. Er kannte die Kühe aber noch weniger …
Was haben wir letztlich getan? – Wir einigten uns darauf, dass einer von uns sich so hinstellte, wie meine Oma es immer tat, und erstmal warten solle, was passiert … . Und jetzt ahnen vielleicht einige, was passierte: Vor dem Stall angekommen schauten die Kühe ein wenig verdutzt, da ihre gewohnte Führungskraft nicht wie sonst vor ihnen stand. Sie zögerten, ob ein Ruf ertönte oder ein Zeichen kam. Und als nichts davon passierte, trotteten sie zu der Tür, durch die sie sich auch zuvor immer gezwängt haben. Kurz und knapp, alles klappte ganz wunderbar, und mit Unterstützung des Nachbarn, der vertrauter mit dem Melken war, lösten sich alle Sorgen auf.
Im Buch „Wirksam führen mit Systemtheorie“ weisen Timm und ich an vielen Stellen darauf hin, dass sich Führungskräfte hüten (sic!) sollen zu denken, sie müssten führen, sie müssten Regeln und Entscheidungen vorgeben und anschließend noch deren Einhaltung kontrollieren. Ihre vordringliche Aufgabe besteht zunächst und vor allem in der Reflexion, wie sich Führung vollzieht, wie die (überlebens-)wichtige Funktion Führung ausgeübt wird, ohne dass die Führungskräfte alles an sich reißen (und dadurch womöglich eher einen negativen Einfluss auf die Führung haben). All dies lässt sich systemtheoretisch gut begründen. Und wenn man diesem Denkansatz folgt, zeigt es sich sicher in unzähligen Situationen in großen wie kleinen Unternehmen, oder auch in Norddeutschland auf einem Bauernhof – sofern die Großeltern ausnahmsweise auf Reisen sind und in einem Podcast überraschende Fragen gestellt werden.
[1] vgl. Timm Richter/ Torsten Groth (2023): „Wirksam führen mit Systemtheorie“. Carl Auer Verlag.
[2] vgl. Jule Jankowski (2023): Podcast „Good Work”, 3. Okt. 2023.