von Timm Richter
Wie kann Führung zu Nachhaltigkeit führen? Das war das Thema, das von unseren Gastgebern der Stratum Lounge für eine Buchvorstellung von uns gesetzt wurde. Die Frage hat mit mir räsoniert, denn Nachhaltigkeit liegt mir am Herzen. Es wäre so wünschenswert, wenn die Welt, genauer: unsere Gesellschaft, nachhaltiger wäre. Und auch Organisationen. Gleichzeitig frage ich mich, welchen Beitrag ich persönlich leisten kann, will oder auch muss.
Unser Buchtitel »Wirksam führen mit Systemtheorie« kann durchaus die Fantasie befördern, wir wüssten, wie man nachhaltig Nachhaltigkeit erzeugt – eine kurze Abfrage zu Anfang der Veranstaltung bestätigte die Erwartungen. Torsten und mir gelang es dann recht schnell, die Hoffnungen auf einfache Rezepte zu enttäuschen. Wir haben lediglich in Aussicht gestellt, die Bedingungen der Möglichkeit zu beleuchten, wie eine nachhaltigere Ausrichtung von Gesellschaft, Organisationen und individueller Lebensweise gelingen kann. Dafür kann die Systemtheorie in der Tat Impulse liefern.
Eine Möglichkeit, mit Beiträgen zur Nachhaltigkeit ins Spiel zu kommen, ist selbst aktiv zu werden und in Führung zu gehen. Die wichtigste Frage hierzu ist die nach der zu führenden Einheit! Je nachdem, welche Systemreferenz man bei der Betrachtung wählt, verschieben sich die Ansatzpunkte für Führungsinterventionen. In unserem Buch unterscheiden wir vor allem vier Führungsebenen in Organisationen, erstens die Selbstführung, zweitens die Führung von Mitarbeitenden und drittens von Teams sowie viertens die Organisationsführung. Hier böte es sich an, nachhaltige Führung zu praktizieren …
Führung auf Gesellschaftsebene?!
Für das Thema Nachhaltigkeit lohnt es sich, zusätzlich Gesellschaft in den Blick zu nehmen. Nachhaltigkeit ist ein gesellschaftliches Thema, denn nur eine umfassende Veränderung auf dieser Ebene wird ausreichen, um Umweltkatastrophen, auf die wir gerade zusteuern, spürbar abzumildern. Das ist insofern tragisch, als dass Führungsbeiträge gemäß unserer Definition aus dem Buch – siehe dazu die Beschreibung im Kasten – systemimmanent wahrscheinlich als too little too late bewerten werden müssen.
Wir sprechen immer dann von Führung, wenn drei Elemente in einer sogenannten Führungsschleife zirkulär [in einem Prozess] miteinander verbunden werden. Diese drei Elemente sind: überprüfen, entscheiden, umsetzen. [Führung beinhaltet] die kontinuierliche Überprüfung, ob es einen Änderungsbedarf gibt – ansonsten wird Kurs gehalten. […] Die Überprüfung allein reicht noch nicht aus, um wirksame Führung zu etablieren. Ein festgestellter Handlungsbedarf – den Kurs zu ändern oder den Kurs trotz Widrigkeiten zu halten – bedarf Entscheidungen, damit die Überprüfung überhaupt eine Chance auf Wirkung hat. Die Wirkung entsteht aber schlussendlich erst, wenn richtig Bewegung in die Sache kommt, also Entscheidungen auch umgesetzt werden.
Richter & Groth: »Wirksam führen mit Systemtheorie«, S. 21
Die Gesellschaft lässt sich noch weniger als andere Systeme durch Führungsversuche irritieren. Problematisch ist vor allem der Aspekt der Entscheidungen, denn es gibt keinen sozialen Ort in unseren modernen (demokratischen) Gesellschaften, die für die gesamte Gesellschaft entscheiden könnte, sie ist laut Luhmann polyzentrisch strukturiert. Noch am ehesten werden Entscheidungen von der Politik erwartet, aber angesichts der multiplen Krisen, nicht nur der Nachhaltigkeitsproblematik, nimmt die Entscheidungsfähigkeit der Politik ab, denn notwendig erscheinende Maßnahmen bedrohen immer stärker die gegenwärtigen Interessen von immer mehr gesellschaftlichen Teilgruppen, so dass der daraus zunehmende Widerstand immer schwerer zu überwinden ist1. Die Wahrscheinlichkeit der Umsetzung dessen, was wenigstens entschieden wurde (z.B. Klimagesetzgebung), wird auf der gesellschaftlichen Ebenen durch das Teilsystem Recht erhöht. Dies erklärt auch die zunehmenden Bemühungen, der Natur oder auch zukünftigen Generationen einen Rechtsstatus zuzusprechen, um die Nachhaltigkeit unserer Lebensgrundlagen abzusichern. Was das Führungselement Überprüfen angeht, spielen die Medien und damit die öffentliche Meinung sicherlich die wichtigste Rolle. Wenn Nachhaltigkeit in die Kommunikation (und damit auf dieser Ebene: in die Gesellschaft) gebracht wird, also zum Thema wird, dann erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Gesellschaft mit der Bewertung von Nachhaltigkeit beschäftigt und sich die Bewertung ändert. Dabei ist allerdings nicht sicher, in welche Richtung sich die Bewertung verschiebt, ob der Einsatz für oder der Widerstand gegen Nachhaltigkeit zunimmt. Die öffentliche Meinung ist ein dickes Brett, Änderungen vollziehen sich für individuell menschliche Maßstäbe eher langsam (siehe z.B. Rauchverbote, Sicherheitsgurte in Autos, Rolle von Frauen), Ausnahmen (z.B.: Einstellung zu Atomkraft nach Fukushima) bestätigen die Regel.
Wer also persönliche Führungsbeiträge für gesellschaftlichen Wandel zum Thema Nachhaltigkeit leisten möchte, sollte Geduld und Frustrationstoleranz mitbringen, denn Gesellschaften haben eine andere Zeitskala als Menschen (nämlich: deutlich langsamer). Damit ausgestattet, kann jeder von uns Führungsbeiträge des Überprüfens, Entscheidens, Umsetzens leisten, z.B.: sich über NGOs, Social Media oder persönliche Diskussionen an der Sisyphusarbeit der Diskursverschiebung 2 beteiligen, in der Politik, vor allem Parteien aktiv werden oder durch persönliches Verhalten (z.B. als Kunde oder Kundin von Unternehmen) bzw. Nutzung des Rechtsweges nachhaltigere Praktiken etablieren oder wahrscheinlicher machen. In dieser Auflistung tauchen – nicht ohne Grund – Organisationen auf. Gesellschaft vollzieht sich nämlich auch – und in modernen Gesellschaften besonders – in Organisationen. Organisationen sind als Sozialform eine kulturelle Errungenschaft, die es Gesellschaft ermöglicht, (komplexere) Probleme zu lösen3. Damit stellt sich sofort die Frage, wie man Organisationen zu mehr Nachhaltigkeit führen kann. Auch hier führt ein systemtheoretischer Blick auf der einen Seite zu mehr Ernüchterung, legt aber anderseits mögliche „Einfallswege“ offen, indem die Funktionsweise einer Organisation anders als im Mainstream üblich konzeptualisiert wird.
Nachhaltigkeit in Organisationen
Die Systemtheorie teilt Appellen („Ändert euer Mindset!“; „Wir brauchen eine andere Haltung.“; „Organisationen müssen nachhaltiger werden, weil sie ansonsten der Gesellschaft schaden.“) eine Absage. Organisationen müssen erst einmal gar nichts. Organisationen sind indifferent gegenüber moralischen Forderungen. Wenn sie moralisch argumentieren oder ihr Verhalten moralisch gedeutet wird, so ist es nicht notwendig und eher irreführend, moralische Intentionen zu unterstellen. Das Einzige, was Organisationen empirisch nachweisbar müssen: so gut an ihre relevanten Umwelten angepasst sein, dass ihr Fortbestand möglich ist – ansonsten ist es zu Ende. Die Funktion von Führung einer Organisation liegt darin, die Überlebensfähigkeit der Organisation zu sichern, mindestens sie wahrscheinlicher zu machen. Damit ist die Nachhaltigkeit der Organisation Dreh- und Angelpunkt jeglicher Führungsleistungen4. Wohlgemerkt, die Systemreferenz, die zu führende Einheit, ist hier die Organisation. Der Organisation ist es erst einmal egal, ob in (entlegenen Teilen der) Welt Umweltzerstörung stattfindet, sie nicht nachwachsende Ressourcen auf Kosten anderer verbraucht oder Mitarbeitende unglücklich sind. Solche Umstände werden erst dann für die Organisation relevant, wenn die Organisation davon ausgeht, dass die Umstände ihr eigenes (langfristiges) Überleben gefährden, z.B.: die öffentliche Reputation Umsätze gefährdet, Strafzahlungen drohen, die Versorgung der Produktion mit Rohstoffen unsicher wird, man nicht genug Mitarbeitende gewinnen bzw. halten kann oder das Potenzial von Mitarbeitenden nicht ausreichend genutzt wird. Diese Perspektive auf die Funktionsweise mag man persönlich (Achtung: andere Systemreferenz!) bedauern, aber Appelle zu starten, dass nicht sein darf, was nicht sein soll, scheint dem Phänomen Organisation nicht gerecht zu werden. (Moralische) Bekenntnisse mögen psychologisch entlasten, ändern aber nichts daran, dass Organisationen nur selbstbezogen operieren. Erst wenn Ziele von Akteuren aus der Umwelt für die Organisation überlebensrelevant werden, d.h., wenn die Akteure mit Macht ihre Ziele gegenüber der Organisation einfordern können, steigt die Wahrscheinlichkeit deutlich, dass diese Ziele von der Organisation (auf die eine oder andere Art) übernommen werden. Z.B.: wenn Anteilseigner bei mangelnder Profitabilität mit dem Verkauf / Zerschlagung eines Unternehmens oder der Entlassung des Vorstandes drohen (können), dann steigt die Wahrscheinlichkeit, dass das Unternehmen (ein System) bzw. der Vorstand (ein anderes System) im Unternehmen das Handeln an steigender Profitabilität ausrichten. Wenn ein Unternehmen – auch aufgrund gesetzlicher Vorgaben und der eigenen öffentlichen Reputation – gesellschaftlichen Druck verspürt und daher Sicherheit in den eigenen Produkten als überlebenswichtig ansieht, dann kann dies zu nachhaltigem Verhalten führen. Dass beides möglich, aber nicht automatisch der Fall ist, dass also Organisationen immer nach eigenen internen Logiken entscheiden, was sie als überlebensnotwendig erachten, zeigt sehr eindrücklich die Geschichte von Boing 5.
Wer nun Nachhaltigkeit in Organisationen durch Führungsbeiträge fördern möchte, sollte stets die verschiedenen Systemreferenzen im Blick haben und sich fragen, von welcher zu führenden Einheit das Überleben wahrscheinlicher gemacht werden sollte. Dabei lohnt es sich zu versuchen, Win-Win-Situationen zu schaffen (also z.B.: eine Maßnahme macht eine Organisation resilienter und schont natürliche oder psychische Ressourcen) und dabei davon auszugehen, dass die Differenzierung nach Systemreferenzen trotzdem immer zu Dilemmata führen wird, die sich nicht auflösen lassen.
Etwas konkreter: jedes Organisationsmitglied kann Sachverhalte aus der Umwelt der Organisation, die es gesellschaftlich oder persönlich für relevant hält, in die organisationsinterne Kommunikation einbringen, um somit kontinuierlich zu überprüfen (Führungsschritt Überprüfen), inwiefern dies auch für Organisation überlebensrelevant ist. Dabei wird man in der Regel den Fokus auf langfristige Betrachtungen zu lenken, die in vielen Organisationen eher zu kurz kommen 6. Kontinuierliche Thematisierung von Nachhaltigkeit mit verschiedenen Systemreferenzen kann auch in Organisationen den Diskursbereich verschieben. In Entscheidungsprozessen (Führungsschritt Entscheiden) kann man versuchen, Maßnahmen, die man selbst für gesellschaftlich oder aus Sicht der Mitarbeitenden wünschenswert hält, so zu gestalten, dass sie auch für die Organisation als überlebenssichernd erscheinen. Wenn Maßnahmen in der Kommunikation als für die Organisation nützlich erscheinen, dann ist es in Organisationen sozial akzeptiert, für sie einzutreten. Davon unabhängig ist zu betrachten, ob man selbst auch an eine Win-Win-Situation glaubt oder man Maßnahmen, die man selbst aus welchen Gründen auch immer will, so „verpackt“, dass eine Nützlichkeit für die Organisation gesehen wird, an die man selbst nicht glaubt. Und schließlich gibt es beim Führungsschritt Umsetzen stets auch immer noch Spielraum, wie genau Entscheidungen in der Praxis dann gestaltet werden. D.h. auch hier hat jeder von uns Möglichkeiten, Freiheitsgrade für z.B. Nachhaltigkeit zu nutzen. Das könnte man als praktiziertes Nudging 7 bezeichnen, z.B. Dienstreisen mit der Bahn anstatt mit dem Flugzeug zu machen.
Trotz allem Streben nach Win-Win-Situationen wird es immer Momente geben, wo die Sicherung der Überlebensfähigkeit von verschiedenen Systemen im Widerspruch zueinanderstehen. Und dann muss man sich entscheiden, z.B.: bezieht man als Organisation politisch Stellung (als Beitrag zur Sicherung einer demokratischen Grundordnung) mit dem Risiko einer nicht gewünschten Politisierung bei Kunden, Lieferanten, Mitarbeitenden; verzichtet man auf Marktanteile oder Marge, um – anders als der Wettbewerb – nachhaltigere Produktionsmethoden zu etablieren, immer mit dem Risiko, dadurch das Unternehmen oder die eigene Karriere im Unternehmen zu gefährden; macht man für ein langfristiges Verbleiben in einer Organisation „nur“ das, was die Organisation von einem verlangt, oder bringt man sich darüber hinaus risikoreich ein (für die Organisation, die Gesellschaft, die persönliche Integrität) bzw. entscheidet sich, hier nicht mehr mitzumachen? Diese Entscheidungen und persönliche Verantwortung kann einem niemand abnehmen.
- Dies ist der Grund, warum Fritz B. Simon erwartet bzw. befürchtet, dass unsere gesellschaftlichen Probleme erst dann gelöst werden, wenn es autokratische Regierungen gibt, die dann unpopuläre, aber hoffentlich dem langfristigen Überleben unserer Gesellschaft dienliche Entscheidungen treffen werden. ↩︎
- Siehe dazu auch die Definition des Overton-Fensters. Man arbeitet hier nicht am aktuell Gesetzten, sondern an dem potenziell Möglichen, also am Kontext. https://de.wikipedia.org/wiki/Overton-Fenster ↩︎
- und leider auch: neue Probleme zu schaffen. ↩︎
- Das steht z.B. – in etwas anderen Worten – auch im deutschen Aktiengesetzt: als Vertreter der Organisation hat der Vorstand „zum Wohle der Gesellschaft zu handeln“ (§93, (1)) und muss „geeignete Maßnahmen“ treffen, „damit den Fortbestand der Gesellschaft gefährdende Entwicklungen früh erkannt werden“ (§91 (2)). ↩︎
- Z.B. in diesem Artikel der SZ: https://www.sueddeutsche.de/projekte/artikel/wirtschaft/boeing-737-max-e261731/ ↩︎
- Eine rühmliche Ausnahme sind viele Familienunternehmen, insbesondere die, die sich besonders an der „Enkelfähigkeit“ des Unternehmens orientieren. ↩︎
- Unter Nudging versteht die Verhaltensökonomie nach Richard Thaler und Cass Sunstein eine Methode, das Verhalten von Menschen zu beeinflussen, ohne dabei auf Verbote und Gebote zurückgreifen oder ökonomische Anreize verändern zu müssen. ↩︎