Wie einfach dürfen Führungshinweise sein?

von Torsten Groth

Kürzlich trendete auf LinkedIn ein Beitrag über „10 Gebote guter Führung“ – ein Beitrag, der mehr als 4000mal gelikt wurde und über 300 Kommentare – zumeist positiv unterstützende – hervorrief. Kein Wunder, denn das, was die Autorin darin zusammenfasst, klingt richtig gut: Chefinnen und Chefs sollen:

1. … authentisch sein;
2. … kein Mikromanagement betreiben;
3. … ihren Mitarbeitenden Visionen und Unterstützung geben, sowie
4. … Respekt und Wertschätzung entgegenbringen;
5. … empathisch und emotional intelligent sein;
6. … auch in turbulenten Phasen Feedback konstruktiv transportieren;
7. … in guten Zeiten nicht mit Anerkennung geizen; 
8. … ihr Team und einzelne Mitglieder fördern und fordern; 
9. … nicht zwingend im Rampenlicht stehen wollen;
10. … zu ihren Fehlern stehen und lernen aus ihnen.

Eher am Rande entspann sich eine Diskussion über die Funktion von Führung und über Authentizität1. Aus einer übergeordneten Perspektive zeigte sich hier die Notwendigkeit, Bewertungen von Führungshinweisen nur in Kombination mit den Prämissen des Denkens vorzunehmen. In diesem Fall heißt es, wenn Du über Führung sprichst und Führungskräften Ratschläge erteilst, dann teile auch Deine Theorien zur Führung mit. – Eines vorweg, mir ist bewusst, dass das Herstellen von Theoriebezügen sogleich einen Rahmen aufspannt, bei dem viele – oft auch Auftraggeber – kritisch fragen: „Muss das sein, reichen nicht klare praktische Hinweis für unsere Führungskräfte?“ Meine, bzw. die swf-Antwort ist dann: „Ja, es muss sein, und nein, einfacher wird es nicht, wenn es praktisch wirksam werden soll …“

Schauen wir als Beobachter 2. Ordnung auf die obige Liste der 10 Gebote, so wird in dieser Führung hauptsächlich als Interaktionsgestaltung verstanden – … und in diesem Kontext klingen die Hinweise passend und hilfreich. Versteht man Führung jedoch als Funktion einer Organisation und sieht Führungskräfte als Verantwortliche für den Erfolg eines Unternehmens, dann relativiert sich die Einschätzung: Da der Organisationskontext kaum vorkommt, fehlt folglich auch die Beschreibung der Differenz zwischen Interaktion und Organisation. Und damit wird die vielleicht größten Herausforderung für (viele) Führungskräfte nicht beachtet: Wie handhabe ich das Dilemma, dass ich in meinem Selbstbild sowie als Person in meiner Rolle alle oben genannten 10 Gebote vor den Mitarbeiter:innen (authentisch?) einhalten möchte und zugleich noch eine Organisationsrolle innehabe, in der anderes von mir verlangt wird? Wie handhabe ich es beispielsweise, wenn ich in Sitzungen Informationen über Änderungen bekomme, die ich noch verschweigen muss, oder organisationsweite Entscheidungen mitvertreten muss, die ich weder getroffen habe, noch so getroffen hätte, und die in meinem Team auf Ablehnungen stoßen? Deutlich wird, dass der Organisationskontext Führungskräfte dazu bringt, in der Interaktion unterschiedliche Rollen unterschiedlich auszufüllen.  Zudem müssen sie immerzu beachten, dass all ihr Handeln ihnen anders zugerechnet wird, als sie es selbst sich wünschen.

Angemessener wäre es daher, so auch meine Erfahrungen in der Arbeit mit Führungskräften, die Normalität von Dilemmata hervorzuheben: Wie gehe ich damit um, dass die Organisation in ihrer Grundstruktur Widersprüche bearbeiten muss (zentral vs. dezentral, Innovation vs. Routine etc.) und somit strukturelle Konflikte auf Dauer gestellt sind, die aber oft nicht als solche erkannt und benannt werden, sondern einzelnen Führungskräften persönlich zugeschrieben werden? – Der Kontext Organisation, sofern man ihn einbezieht, erweitert nicht nur das Aufgabenspektrum, er führt zu der generellen Sicht, dass Führungskräfte nicht umhinkommen, Widersprüche zu balancieren, von denen sie selbst erfasst werden.  Dieses müssen sie vor sich und gegenüber Mitarbeiter:innen vertreten können …

Der hier nur angedeutete Verweis auf Führung als Funktion und den Organisationskontext mit strukturell angelegten Widersprüchen bedeutet nicht, dass die 10 Gebote falsch sind; sie sind richtig und falsch zugleich. Sie weisen richtigerweise auf eine interaktionistische Seite von Führung hin, in der es in der Sozialdimension um Bindung und Vertrauen geht, und sie leiten fehl, wenn Führungskräfte in ihrer anderen Rolle gefordert sind. Was man also Führungskräften nahelegen kann, ist eine „Spielfähigkeit“ zu entwickeln, also immer zu reflektieren, welcher „Rahmen“ angesagt ist und bzw. in welcher Hinsicht sich mehrere „Rahmen“ auch widersprechen. Wer vor diesem Hintergrund noch das Konzept der Authentizität retten möchte, der müsste ungefähr formulieren: „Spiele jeweils die Form der Authentizität, die der Kontext von Dir in Deiner Rolle verlangt und mache es in einer Art und Weise, die sich situativ für Dich stimmig anfühlt. Erhöhe mit diesem Vorgehen die Wahrscheinlichkeit, dass Dir Authentizität zugeschrieben wird und steuere anhand der Reaktionen nach … „. Sehr frei nach Karl Weick ließe sich zusammenfassen: Wie kann ich wissen, ob ich authentisch bin, bis ich nicht beobachtet habe, was das Umfeld mir als Authentizität zuschreibt?

Ideen wie diese sind nicht einfach (aufzulisten). Sie basieren im Übrigen auf soziologischen Grundlagenarbeiten von Gregory Bateson und Erving Goffman. Doch nur wenn man diese und andere Theorien hinzuzieht, gelingt es, die Praxis der Führung angemessen zu beschreiben und Führungskräften ein angemessenes Verständnis ihrer Praxis zu ermöglichen. 

Quelle: LinkedIn-Beitrag



  1. Ich beziehe mich hier auf Beiträge des Kollegen Jörg Rosenberger. ↩︎