Wir brauchen jetzt mal eine Strategie!

von Timm Richter

Den Satz habe ich in meinem Berufsleben schon öfter gehört. Aber was ist damit überhaupt gemeint? Wenn man eine Strategie hat, so gab es vorher auf jeden Fall einen wie auch immer gestalteten Prozess, der als Ergebnis eine Strategie als Inhalt produziert. Und diese Unterscheidung zwischen Prozess und Inhalt erscheint mir sehr nützlich. Oft wird nur über Inhalte nachgedacht und der Prozess vernachlässigt. Dabei fallen Strategien sehr unterschiedlich aus, je nachdem, wie sie entstanden sind. Und klar, nur über den Prozess nachzudenken, ohne auf Inhalte zu achten, ist auch nicht zielführend. Denn eine Strategie sollte einen Unterschied machen. Nur welchen?

Funktion: die Organisation an einem zukünftigen Außen ausrichten

Die Funktion einer Strategie ist die Sicherung der Überlebensfähigkeit. Dies ist ganz allgemein die Funktion von Führung, und damit ist Strategiearbeit eine spezielle Form von Führung. Es geht darum, darüber nachzudenken, wie man heute handeln will, um morgen noch im Spiel zu sein.

Strategiearbeit zeichnet sich also dadurch aus, das von der Zukunft her geführt wird. Eine Strategie erschafft Zukunft, indem durch sie in der Sache entschieden wird (das ist dann der Inhalt einer Strategie), wie eine Organisation sich in ihrer relevanten Umwelt verhalten soll, also in welchen Umwelten (z.B. Märkten oder Kundensegmenten) sie welche Form von Angeboten (Ausgestaltung von Produkten und Dienstleistungen) liefert. Strategiearbeit schafft oder verändert inhaltliche Programme, also Entscheidungsprämissen der Organisation. In der Regel passiert es auch, dass parallel oder in der Folge die Organisation verändert wird oder Stellenbesetzungen bzw. Personal wechseln, also z.B. nach einer neuen Strategie eine Restrukturierung durchgeführt oder der CEO entlassen wird (die Reihenfolge könnte im Übrigen auch andersherum sein). Damit ändert man die Entscheidungsprämissen Kommunikationswege bzw. Personal. Führung arbeitet immer an den drei Entscheidungsprämissen (gleichzeitig), Strategie-, Change- oder Führungsentwicklungsprojekte setzen dabei je andere Schwerpunkte.

Also zusammengefasst: Strategiearbeit ist der Prozessaspekt von Führung, der – von der Zukunft hergedacht und mit einer Außenorientierung an relevanten Umwelten im Blick – für eine inhaltliche Programmierung (= Richtung) sorgt. Strategiearbeit beeinflusst die zukünftige Kopplung einer Organisation an ihre Umwelten. Deswegen ist die SWOT-Analyse auch die „Mutter aller Strategiewerkzeuge“, die wahrscheinlich in keinem Strategieprojekt fehlt: die Organisation (= Stärken / Schwächen) wird in Beziehung gesetzt zu den zukunftsorientierten Erwartungen (= Chancen / Risiken) über das Überleben in ihrer Umwelt. 

Inhalt: sachliche Programmierung auf Basis einer selbsterzeugten Vorstellung der relevanten Umwelt

Ein wesentlicher Aspekt von Strategiearbeit ist die Reflexion über die relevante (Um)welt, d.h.: welches Bild hat die Organisation von ihrer (Um)welt? Niklas Luhmann nennt dieses Bild „kognitive Routinen“. Sie sind eine weitere Entscheidungsprämisse, hochrelevant für Strategiearbeit, die allerdings in der Rezeption von Luhmann wenig thematisiert wird. Dem Bild, das eine Organisation von seiner (Um)welt hat, wird „Realitätskredit“ zugeschrieben, es beeinflusst, welche strategischen Maßnahmen eine Organisation ergreift. Es macht z.B. einen Unterschied, welche Kompetenzen man Wettbewerbern zuschreibt, welche Gesetzesänderungen man erwartet oder welche Entwicklungstrends im Geschmack von Kunden gesehen werden. 

„Kognitive Routinen“ entstehen, ähnlich der Kultur, emergent im Zeitverlauf. In der Strategiearbeit können sie thematisiert, also in die Selbstbeobachtung durch die Organisation gebracht werden, mit dem Ziel, sie zu überprüfen und zu beeinflussen. (Andere) Kunden- oder Lieferantenbefragungen, Marktstudien oder Auswertungen eigener Daten können im Strategieprozess kognitive Routinen verändern. 

Drei Umwelten sind für Organisationen besonders relevant und werden deshalb in der Strategiearbeit berücksichtigt:

  • Kunden: dies können zahlende Kunden wie bei Unternehmen sein oder aber „Leistungsempfänger“, die nicht selbst für die Finanzierung aufkommen, z.B. Studenten an (Fach)hochschulen. In jedem Fall entwickeln Organisationen in Strategieprozessen ein Bild von den Bedürfnissen der Kunden. „Den“ Kunden gibt es nicht, man kann die Kunden unterschiedlich segmentieren, also gibt es in Organisationen Gesprächsbedarf, welche Produkte und Dienstleistungen für wen erbracht werden sollen. Das Bild von Kunden ist dabei stets selbsterzeugt, bei genauer Beobachtung stellt man nämlich fest, dass in Organisationen stets über Kunden gesprochen, niemals mit ihnen (allen). In jedem Fall wird in einem Strategieprozess darüber nachgedacht, welche möglichen Bedarfe es für Produkte und Dienstleistungen der Organisation gibt. 
  • Markt- und Wettbewerbsumfeld: Für die eigene Positionierung ist es weiterhin wichtig, Rahmenbedingungen mit zu berücksichtigen, denn eine Organisation ist nicht allein auf der Welt. Z.B.: Was kann die Organisation im Vergleich zu Wettbewerbern besser? Mit welchen regulatorischen Vorgaben ist (zukünftig) zu rechnen? Welchen Einfluss hat die öffentliche Meinung? Wie wird die Zuarbeit von welchen Lieferanten gesichert? Mit dem Blick auf das Markt- und Wettbewerbsumfeld wird darüber nachgedacht, ob eine Organisation (im Vergleich zu anderen) in der Lage ist, Kundenbedürfnisse (besser als andere) zu erfüllen.
  • Interne Stakeholder: Die beiden ersten Umwelten sind äußere, zusätzlich gibt es noch interne Stakeholder, deren Perspektiven ebenfalls zu berücksichtigen sind. Dazu gehören vor allem Kapitalgeber und Mitarbeitende. Eine Strategie mag z.B. erfolgsversprechend am Markt, aber zu risikoreich für die Anteilseigner sein. Oder ein Unternehmen wird von einer VC-Firma gekauft und hoch verschuldet – auch das hat einen großen Einfluss auf die Strategie. Je nachdem, welchen Zweck eine Organisation verfolgt, ist sie unterschiedlich attraktiv für Mitarbeitende. openAI z.B. ist als Non-Profit-Organisation gestartet und jetzt dabei, sich in ein For-Profit-Unternehmen zu verwandeln, so dass Forschung stärker in den Hintergrund und kommerzialisierbare Produktentwicklung in den Vordergrund tritt. Das gefällt nicht allen, viele wichtige Personen aus der Gründungsphase haben in den letzten Monaten die Firma verlassen. Der Zweck bzw. die strategische Ausrichtung einer Organisation ist stets auch eine Aushandlung der Interessen der beteiligten internen Stakeholder, die den strategischen Möglichkeitsraum mitbestimmen. 

Prozess: Drei Aspekte für die Prozessgestaltung

Nachdem wir bisher die Inhalte eines Strategieprozess näher betrachtet haben, wollen wir uns jetzt noch dem Prozess selbst widmen. Es gibt vielfältige Formen, die er annehmen kann. Möchte man den Prozess – als Berater:in oder Führungskraft – aktiv gestalten, so bieten sich drei Dimensionen an, um über die Form nachzudenken:

  • Sozial: partizipativ vs. direktiv. In einen Strategieprozess können viele Personen und Parteien eingebunden werden … oder man hält den Kreis der Beteiligten eher klein. Im letzteren Fall arbeitet die Geschäftsführung meist allein, vielleicht noch begleitet durch eine externe Beratung. Dadurch kann man unter Umständen schneller arbeiten und auch sehr kritische Themen erst einmal „intern“ besprechen. Eine zu große Öffentlichkeit, zu früh hergestellt, kann eine vielleicht sinnvolle Strategie unmöglich machen, insbesondere, wenn sie mit großen Veränderungen verbunden ist. Auf der anderen Seite kann eine stärker partizipativ entwickelte Strategie mehr und vielfältigere Perspektiven einbinden, mehr Signale aus der Umwelt aufnehmen und unter Umständen die interne Akzeptanz von Strategien erhöhen. 
  • Sachlich: inkrementell vs. Big Bet. Je stärker sich eine Strategie von der bisherigen unterscheidet, je stärker der Kurs geändert wird, desto größer ist das damit verbundene Risiko – man weiß nicht, worauf man sich einlässt. Inkrementelle Strategien starten von (vermeintlich) sicherem Grund und optimieren kontinuierlich Bestehendes. Das kann auch sehr risikoreich sein, wenn sich die Umwelt sehr stark ändert. Eindeutige Antworten, welches Vorgehen das Überleben eher sichert, gibt es nicht. Aber es erscheint nützlich zumindest zu reflektieren, welchen Risikobedarf die am Strategieprozess Beteiligten sehen. 
  • Zeitlich: Erkennend vs. gestaltend. Strategien entstehen auch evolutionär. Ein Nischenprodukt wird ausprobiert und ist überraschend erfolgreich oder bei Forschung fallen nicht intendierte Nebenprodukte ab. Manch eine Strategie hat sich bewährt und wird erst im Nachhinein „postrationalisiert“. In jedem Fall ist es eine Möglichkeit, auf gelebte Praxis zu schauen und erfolgsversprechende Strategien im Nachlauf zu entdecken und dann zu optimieren. Der alternative Ansatz geht von der Idee aus, dass die Zukunft gestaltet wird. Hier wird viel stärker imaginiert, wie man sich eine Zukunft wünscht, um dann zu überlegen, wie man diese Zukunft wahrscheinlicher machen kann. 

Die Kunst einer gelungenen Strategiearbeit ist es, all die genannten Aspekte – Inhalte mit Programmen und kognitive Routinen in der Kopplung an relevante Umwelten sowie die Prozessgestaltung entlang der Sozial-, Sach- und Zeitdimension – gut aufeinander abzustimmen.