Zielvorgaben: Wer daneben zielt, trifft besser

von Timm Richter
Die Festlegung von Zielen ist ein wichtiges Werkzeug, um in Organisationen Arbeit zu koordinieren und auszurichten. Auf die Frage, wie das am besten gelänge, wird in der Regel geantwortet, dass die Ziele SMART sein sollen: specific, measurable, achievable, relevant, time-based. Wenn dann trotz aller Smartness im Folgenden Erwartungen bezüglich der Zielerreichung enttäuscht werden, kann es daran liegen, dass bei smarten fokussierten Zielen paradoxerweise das „eigentliche“ Ziel aus dem Blick gerät (Stichwort Tunnelblick). Wer hingegen Zielerwartungen weniger genau, also offener, formuliert und den Kontext einbezieht, erhöht die Wahrscheinlichkeit, in der gewünschten Richtung voranzukommen.

Mitarbeitende, Teams, Abteilungen, etc. in Organisationen haben vielfältige Möglichkeiten, was sie alles tun können. Dabei sind sie (in der Regel) bereit, dass zu tun, was von ihnen erwartet wird. Gleichzeitig möchten sie wissen, woran sie erkennen können, ob sie einen guten Job machen. Hier kommen Ziele ins Spiel. Sie werden definiert, um Unsicherheit in Organisationen und bei den Beteiligten zu reduzieren. Das funktioniert nur – so meint man oft -, wenn die Ziele als Spielregel vor dem Spiel festgelegt werden. Wer mag es schon gerne, wenn einfach gespielt wird und irgendjemand dann am Ende (willkürlich) festlegt, wer wie hoch gewonnen hat? Da möchte man als Mitspieler (Mitarbeitende, Teams, Abteilungen,etc.) es doch vorher etwas genauer wissen, welches Spiel gespielt wird, woran man Erfolg erkennt, welche Leistung ausreichend / gut / phantastisch sind. Und am besten sehr genau. Dieser Fokus wird mit dem Akronym SMART auf den Punkt gebracht. Je smarter, desto besser. Oder etwa nicht?

Wenn die Situation, für die Ziele gesetzt werden, recht überschaubar und klar ist, dann kann eine solche Fokussierung sehr wirksam sein. Gleichzeitig lässt sich in der Praxis beobachten, dass in komplexeren Situationen smarte Zielvorgaben zu zwei Arten von Enttäuschungen führen können. Zum einen: das smarte Ziel wird erreicht und man ist trotzdem unzufrieden. Z.B.: Das festgelegte Absatzziel für das Quartal wurde zwar erreicht, aber man hat das Gefühl, dass mit den dafür gegebenen Rabatten mittelfristig keine ausreichende Profitabilität erzielt werden kann. Zum anderen: das smarte Ziel wurde verfehlt, aber man ist trotzdem mit den Ergebnissen zufrieden. So könnte es sein, dass man es nicht geschafft hat, auf allen geplanten Messen auszustellen, aber auf dieser einen Messe hat man den nächsten Großkunden gewonnen.

Manche Befürworter der smarten Zielsetzung mögen jetzt einwerfen: mag sein, dass es hier Enttäuschungen gibt, das liegt aber daran, dass die Ziele eben nicht SMART genug waren! Wären die Ziele „richtig“ SMART gewesen, dann hätten sie auch funktioniert. Der Haken an der Sache ist leider der, dass man das „richtig“ – außer in recht einfachen Situationen – eben nicht vorher weiß! Woher soll ich wissen, was mein Ziel ist, bevor ich weiß, wie sich Zielerfüllung anfühlt, was die Konsequenzen sind und ob ich alle angewendeten Mittel gutheiße, die den Beteiligten einfallen und an die ich (vorher) gar nicht gedacht habe? Diese „Lücke“ ist ein prinzipiell unlösbares Problem, da die Zukunft immer unsicher bleibt. Je enger man mit Zielen smart führt, umso sicherer muss man sich sein, dass die Richtung stimmt. Und je unsicherer die Situation ist, desto mehr Unsicherheit sollte man in der Zielsetzung halten, um Sicherheit für das Handeln zu gewinnen. Anstatt also den Fokus zu erhöhen, sollte man den Kontext stärker in den Blick nehmen, also weiter zielen.

Wo ein Fokus ist, da ist immer auch ein Kontext, in dem sich der Fokus abspielt. Denn Fokus bedeutet, dass man von anderen Dingen absieht. Diese anderen Dinge sind aber – mindestens implizit – immer mit im Raum; mitgedacht, aber oft nicht mitgesagt. Wenn die (Maßnahme zur) Zielerreichung gegen den Kontext verstößt, dann kommt es zu den oben genannten Enttäuschungen. Das Besprechen des Kontextes kann das prinzipielle Problem der Zukunftsunsicherheit natürlich auch nicht lösen, es erhöht allerdings die Spielfähigkeit aller Beteiligten und vermindert die Wahrscheinlichkeit der Enttäuschung. 

SMART ist ein großartiges Akronym für fokussierte Ziele, für den Kontext gibt es meines Wissens noch keines. Vielleicht bietet sich TIGER an, denn gemäß einer bekannten Fernsehwerbung sollten smarte Ziele immer den Tiger in einem wecken, um nach dem Kontext zu forschen. Und dann könnte man folgende Fragen zu verschiedenen Aspekten des Kontextes stellen:

  • Thema: Worum geht es überhaupt … ganz allgemein … bei diesem Ziel? Was ist die Situation? Es hilft, wenn diejenigen, die Ziele setzen, einfach mal ihre Gedanken dazu ausspeichern.
  • Intention: Wer möchte etwas … und warum? Früher hieß es auch: Cui bono – wem nützt es? Die Frage nach den relevanten Stakeholdern leuchtet einen wesentlichen Aspekt des Kontextes aus. Da die Klärung der Intention einen großen Unterschied machen kann, empfiehlt Stephen Bungay, die Spice Girls Frage zu stellen: „What do you really really want?“ Die Intention verwandelt das Ziel in das Mittel, die Intention zu erreichen. 
  • Grenzen: Was geht gar nicht? Anstatt nach dem positiven Attraktor „Ziel“ wird nach abstoßenden Repelloren gefragt, die man unbedingt vermeiden muss. Oft sind diese roten Linien viel wichtiger als das eigentliche Ziel, denn wenn die rote Lampe angeht, herrscht Alarm – wer kennt das nicht aus dem Alltag?
  • Ergänzungen: Was gibt es noch zu sagen? Es mag auch scheinbar nebensächliche Dinge geben, die man auf den ersten Blick gar nicht mit dem Ziel in Verbindung bringt. Aber manchmal machen Details den wichtigen Unterschied. Es lohnt sich, noch einmal offen nach weiteren Assoziationen zu fragen, was einem noch zu dem Ziel so einfällt.
  • Rahmen: Was ist die Vorgeschichte der Situation? Wie soll es nach Zielerreichung weitergehen? Die Besprechung von Vorgeschichte und Fortsetzung erweitert die Kontextur des fokussierten Zieles und gibt allen Beteiligten weitere wertvolle Hinweise im Rahmen der Zielklärung. Vor allem bei der Rahmung der Fortsetzung lohnt es sich zu klären, in welchen Zeitintervallen das Ziel und die Zielerreichung reflektiert wird inklusive der Möglichkeit, das Ziel anzupassen.

Wird der Kontext bei einer Zielfestlegung mit besprochen, können alle Beteiligten im späteren Tun mitdenken und ihr Handeln nicht nur an den smarten Zielen ausrichten, sondern im Wissen des Kontextes wie ein Tiger Sprünge machen, um in der gewünschten Richtung weiterzukommen.