von Nadja Walser, Roland Wolfig, Aaron Scheer
Am Anfang unseres voraussetzungsvollen Vorhabens stand die Frage von Simon, Weber Friends: „Habt ihr Lust, zu neuen Organisationsformen zu forschen?“ – Wir, das ist das Beraterkollektiv BEYA. Zu Beginn des Forschungsprojektes waren wir selbständige Berater:innen, Student:innen und Mitarbeitende in Unternehmen. Aber dazu später mehr.
Und ja, wir hatten Lust, von außen in ein Großunternehmen zu blicken. Wir wollten herausfinden, wie große Organisationen „New Organizing“ anhand der Leitlinien von Agilität, Holacracy, flexiblen Arbeitszeiten, New Work, Hierarchieabbau, Selbstorganisation oder neuer Arbeitsraumgestaltung in der Praxis umsetzen. Neugierig waren wir, welche Erfolgsgeschichten sie mit uns teilen würden, welche Hürden sie dabei bewältigen und wie bestehende, hierarchisch organisierte Organisationen mit mehr oder weniger radikalen Veränderungen umgehen.
Was passiert, wenn größere Unternehmen Konzepte der Organisationsgestaltung einführen, die gerade im Trend liegen? – Mit Blick auf den Abschluss unseres gleichnamigen Forschungs- und Buchprojekts laden wir ein zu einer Expedition in die Welt des „New Organizing“. Wie auch im Herausgeberband werden die Beitragsautor:innen regelmäßig – bis zur Veröffentlichung im Oktober – Einblicke in die Innenwelt von Konzernen und größeren Organisationseinheiten geben, die sich mit der Einführung neuer, „agiler“ Methoden bis hin zu neuen Organisationsformen befassen. Ergänzend werden Theorie- und Forschungshintergründe präsentiert und vor allem Ausblicke gegeben, worauf Führung und Beratung zukünftig zu achten haben, wenn sie neue Organisationsansätze parallel zu vorhandenen Konzernstrukturen wirksam einführen möchten.
Im gesamten Forschungsvorhaben hatten wir uns auf qualitative Interviews als gewählte Vorgehensweise geeinigt – frei nach dem systemischen Hauptsatz „Alles Gesagte wird von einem Beobachter gesagt“. Zusätzlich hatten wir uns in unserem Team darauf verständigt, dass wir das Bild der Organisation, welches die Mitarbeitenden in den Interviews erschaffen, durch eine teilnehmende Beobachtung ergänzen und abrunden möchten. Die Bühne, also das Schaubild, dass uns geboten werden würde, sollte um die Fülle an „Material“, das im täglichen Miteinander über die große Menge an Signalen, die im Subtext mitgeliefert werden, angereichert und auch abgeglichen werden. Eine Vorgehensweise, die sich auf jeden Fall bezahlt gemacht hat.
Als Kooperations- und Forschungspartner konnten wir ein österreichisches Telekommunikationsunternehmen gewinnen, das uns Einblick in verschiedene Abteilungen (IT, Einkauf und Controlling) und unterschiedliche Hierarchieebenen ermöglichte. Jede dieser Abteilungen hatte neue Organisations- oder Arbeitsformen bereits im Einsatz oder war gerade dabei, diese zu implementieren. Und wir konnten sie direkt dabei beobachten. Wie spannend!
Zu Beginn unserer Forschungstätigkeit fanden wir heraus, dass jede Abteilung ihre individuellen „New Organizing“-Ansätze ausgearbeitet und implementiert hatte. In der IT wurde eine Transformation durch neue Methoden wie zum Beispiel Scrum versucht. Durch Trainings von externen Beratern wurde ein gemeinsamer Wissensstand für interessierte Mitglieder der Organisation hergestellt. Man setzte jedoch nicht alles auf eine Karte, sondern startete mit einzelnen Pilotprojekten. Die interne Anforderung war, effizienter und fokussierter zu arbeiten. Zusätzlich wollte die Abteilung attraktiver für neue Mitarbeitende am externen Arbeitsmarkt sein.
Die Einkaufsabteilung wählte einen anderen Ansatz und startete New Work mit einer komplett neuen Aufgaben- und Rollenverteilung. Verstärkte Interdisziplinarität, bei der man gegenseitig voneinander lernt, und ein neues Führungsverständnis sollten dazu beitragen, ein neues Mindset im Team zu etablieren und so eine interne Serviceorientierung zu etablieren. Mittels Workshops wurde versucht, alte Muster zu reflektieren und diese zu verändern, jedoch ohne dabei neue Methoden einzuführen.
Im Controlling wurde abermals ein anderer Ansatz gewählt. Hier gaben räumliche Veränderungen einen Anstoß zu neuen Formen der Zusammenarbeit über Abteilungsgrenzen hinweg. Die Abteilung versteht sich zunehmend als Dienstleister, welcher den internen Kunden in den Mittelpunkt stellt und sich interdisziplinärem Arbeiten öffnet. Durch die neue, offene Büroraumgestaltung wurde der Kontakt zu umliegenden Abteilungen verstärkt und versucht, die Kundenzentrierung zu stärken.
Trotz dieser diversen Vorgehensweise und deren unterschiedliche Ziele und Auswirkungen gab es auch Schnittmengen zwischen den einzelnen Initiativen. Die Organisation hatte großflächig das „Jahr des Experimentierens“ ausgerufen. Das bedeutet, dass jeglicher Wandel hin zu „New Work“ von der Unternehmensführung unterstützt oder zumindest toleriert wurde, aber die Vorhaben auf freiwilliger Basis stattfanden. Ansonsten gab es kaum Vorgaben, und den Bereichen wurde freie Hand gelassen. Die beforschten Bereiche zeichneten sich dadurch aus, dass sie jeweils Veränderungen angingen, die genau auf den Bereich zugeschnitten waren und dessen Herausforderungen oder „pain points“ trafen. Und: Es gab eine zentrale Anlaufstelle im Unternehmen, welche die Transformation begleitete, als interner Berater zur Verfügung stand und den Wandel hin zu New Work vorantrieb.
Was waren die beobachtbaren Auswirkungen dieser Vorgehensweise?
In der Organisation bildeten sich „agile Inseln“, also Unternehmensbereiche, die mit neuen Arbeitsweisen arbeiteten, sich in einem aktiven Wandel befanden und sich damit vom Rest der Organisation mit ihren gewohnten Abläufen unterschieden. Dadurch veränderten sich die Schnittstellen zwischen den klassischen und den agilen Einheiten, wodurch alle angrenzenden Bereiche ebenfalls, zumindest zum Teil, in den Veränderungsprozess hineingezogen wurden.
Was bringt die Zukunft?
Eine Erkenntnis aus unserer Forschung ist, dass die Handhabung der Schnittstellen zwischen klassischen und agilen Einheiten immer wieder aufs Neue ausgehandelt werden muss, da es keine Vorgaben diesbezüglich von der Organisation gibt. Dies bedeutet, dass die Kernparadoxie „Stabilität versus Wandel“, die den globalen Veränderungsprozess beschreibt, wieder und wieder auf Mitarbeitendenebene bearbeitet werden muss.
Ein weiterer Aspekt ist, dass man das Prinzip der Freiwilligkeit wahrscheinlich nicht langfristig beibehalten kann. Irgendwann muss es eine Entscheidung für die eine oder die andere Richtung geben, da schon im Beobachtungszeitraum in manchen Bereichen eine Spaltung der Mitarbeitenden in agile und nicht-agile Lager sichtbar wurde.
Eines ist klar – Veränderung hat begonnen und Erkenntnisse wurden gewonnen. Einmal angestoßen, wird sich dieser Prozess in der Zukunft auf die eine oder andere Art fortsetzen. Frei nach dem Motto eines Interviewpartners: „Die Milch kriegst Du nicht mehr aus dem Kaffee“. Was man als eine bewusste Interventionsstrategie interpretieren kann, dass Führung zunächst uneindeutig reagiert. Und sich heraushält, die Experimente beobachtet. Als Intervention mag das geeignet sein, auf Dauer gestellt wird diese Strategie nicht durchzuhalten sein, denn es besteht das Risiko, dass die Einzelinitiativen mittelfristig an Kraft verlieren und von der klassischen Organisation teilweise in alte Muster zurückgedrängt werden. Folglich wird sich die Organisation die Frage stellen müssen: „Soll die Transformation auf das gesamte Unternehmen ausgeweitet werden?“ Falls diese Frage positiv beantwortet wird, bedeutet dies das Ende der Freiwilligkeit. Will man den Fokus auf die Transformation einzelner Bereiche legen, könnte der eingeschlagene Weg weitergegangen werden und der Fokus müsste auf der Bearbeitung der Schnittstellen zwischen klassischer und agiler Organisation liegen.
Nebst unserem Fall konnten wir auch von unseren Forscher:innenkolleg:innen und ihren Fällen in diversen Konzernen aus dem DACH-Raum lernen. Wir freuen uns sehr über die Veröffentlichung des Buches und hoffen, Sie haben beim Lesen so viel Freude wie wir sie beim Forschen hatten.
Mehr zum Fall und Mustern sowie Learnings findet sich in:
Walser, N., Wolfig, R., Scheer, A., Hinterberger, R.: Wieder Melange: Die Milch kriegst‘ nicht mehr aus dem Kaffee – Agile Inseln in einem Telekommunikationsunternehmen
In: Groth, T., Krejci, G., Günther, St. (2021) (Hrsg.): New Organizing. Wie Großorganisationen Agilität, Holacracy & Co. einführen – und was man daraus lernen kann. Heidelberg: Carl Auer, Kap. II.8
Das Buch „New Organizing. Wie Großorganisationen Agilität, Holacracy & Co. einführen – und was man daraus lernen kann“ ist seit Anfang Oktober 2021 im Carl-Auer Verlag erhältlich. Bestellungen sind hier möglich. Am 1. Oktober 2021 fand außerdem unsere Online-Tagung zum Buch statt. Weitere Informationen gibt es hier.