Entscheidungsprämissen leicht gemacht

von Timm Richter

In der systemischen Literatur zu den Besonderheiten von Organisationen gibt es mehrere (leicht) unterschiedliche Fassungen zu dem Begriff der Entscheidungsprämissen. Zu nennen ist an erster Stelle Niklas Luhmann, der das Konzept der Entscheidungsprämissen in der deutschsprachigen Soziologie geprägt hat, sodann Fritz B. Simon und Stefan Kühl, die das Konzept auf unterschiedliche Weise für den Organisationsalltag erschlossen haben. Die folgende Abhandlung hat zum Ziel, eine in sich stimmige Definition und Kategorisierung der unterschiedlichen Entscheidungsprämissen vorzustellen.

Entscheidungsprämissen sind ein so zentrales Element in der Organisationssoziologie, da sie für die Strukturbildung (genauer: die Ausbildung von Erwartungen) in Organisationen sorgen. Wenn man wissen möchte, wie in Organisationen gehandelt und vor allem: entschieden wird, dann orientiert man sich an den beobachtbaren oder vermuteten Entscheidungsprämissen. Entscheidungsprämissen sind Entscheidungen, die (ungeprüft) als Prämisse für weitere Entscheidungen verwendet werden[1]. In ihrem Zusammenspiel schränken Entscheidungsprämissen Selektionsmöglichkeiten für weitere Entscheidungen ein, ohne diese abgeleiteten Folgeentscheidungen vollständig festzulegen. Weniger abstrakt formuliert sind Entscheidungsprämissen einfach die Spielregeln, die das Spiel in der Organisation regeln. Wir kennen alle eine Vielzahl von Beispielen für solche Spielregeln:

  • Nur wer einen Mitarbeiterausweis hat, kommt auf das Firmengelände / in die Büroräume.
  • Bei Dienstreisen sind die Reiserichtlinien zu beachten.
  • Die Strategie definiert die Geschäftsfelder, in denen das Unternehmen aktiv ist.
  • Das Organigramm regelt u.a. die Personalverantwortung, wer an wen berichtet und welche Teams welche Aufgabe übernehmen.
  • In Stellenbeschreibungen werden die Entscheidungsbefugnisse und Verantwortungsbereiche festgeschrieben.
  • Prozesse, wie man in der Organisation Geschäftsvorfälle behandelt, werden wahlweise über IT-Systeme oder Handbücher gesteuert.
  • Prozesse können auch durch Gewohnheiten, die sich über Zeit eingespielt haben, definiert werden.
  • Wir achten außerdem darauf, wie – unabhängig von allen dokumentierten Vorschriften – „der Hase hier so läuft“, wie man Dinge hier „wirklich“ macht. Dazu gehört auch bei Entscheidungen stets mitzubedenken, was andere Mitarbeiter:innen, insbesondere Vorgesetze, wohl machen würden. Und wenn Stellen neu besetzt werden, achtet man darauf, wie durch diesen Personalwechsel in Zukunft Entscheidungen anders getroffen werden, z.B. konservativer oder progressiver, mehr auf Sicherheit bedacht oder ins Risiko gehend, etc.

Einig sind sich die drei oben genannten Autoren Luhmann, Simon, Kühl, dass es vier Kategorien von Entscheidungsprämissen gibt: Programme, Kommunikationswege, Personal und Kultur. Insbesondere bei der Frage, was denn genau unter Kultur zu verstehen ist, also wie Kultur definiert ist, da hört die Einigkeit allerdings schon auf. Und es werden in der Diskussion drei Unterscheidungen unterschiedlich verwendet:

  • Formale und informale Entscheidungsprämissen
  • Entschiedene und unentschiedene (=nicht-entschiedene) Entscheidungsprämissen
  • Entscheidbare und unentscheidbare Entscheidungsprämissen

Im Folgenden geht es um den Versuch, ein wenig Ordnung und begriffliche Klarheit einzuführen. Das hat hohe praktische Relevanz, denn mit präzisen begrifflichen Unterscheidungen bzw. Kategorisierung von Entscheidungsprämissen ist man besser in der Lage, die „Natur“ der je gültigen Entscheidungsprämissen in der eigenen Organisation zu identifizieren und entsprechend angemessen mit ihnen umzugehen. Denn die unterschiedlichen Kategorien von Entscheidungsprämissen wirken unterschiedlich und unterscheiden sich in der Art, wie sie beeinflusst bzw. geändert werden können. Wer also die die Konfiguration und das Zusammenspiel der Entscheidungsprämissen in der eigenen Organisation verändern möchte, dem hilft eine differenzierte Kategorisierung von Entscheidungsprämissen.

Exkurs: Entscheidung und Organisation

Eine Entscheidung im Sinne von Niklas Luhmann ist eine besondere Form der Kommunikation, nämlich die Kommunikation von (mindestens) zwei Alternativen, von denen man eine als präferiert auswählt. Entscheidungen zeichnen sich also gegenüber einfachen Handlungen, die „Tatsachen“ schaffen, dadurch aus, dass man die abgelehnte andere Möglichkeit explizit mitkommuniziert. Eine Entscheidung verwandelt also Unsicherheit (sollte man A oder B wählen?) in Zweifel (war A die richtige Wahl oder hätte man nicht doch besser B wählen sollen?).  Hier taucht das Wort „richtig“ auf und im Kontext von Entscheidungen gibt es zwei Verwendungen von „Richtigkeit“:

Richtigkeit im Sinne von Begründbarkeit (um nicht zu sagen Wahrheit): ist die Entscheidung für A anstatt B gut argumentierbar, vielleicht sogar beweisbar oder logisch notwendig? Das zugespitzte Bonmot von Heinz von Foerster Nur Unentscheidbares ist entscheidbar ist in diesem Sinne zu verstehen: wenn eine Entscheidung zwischen A und B so klar wäre, dass sie ausrechenbar oder ableitbar wäre, dann gäbe es nichts zu entscheiden. Nur in den Situationen, in denen sich weder A noch B entscheidend hervortun, sie also gleichwertig erscheinen, ist man überhaupt in Entscheidungsnot: man kann nicht sicher ohne Zweifel „richtig“ entscheiden.

Darüber hinaus wird Richtigkeit im Kontext von Entscheidungen im Sinne von Überprüfbarkeit verwendet. Hier möchte man wissen, ob eine Entscheidung richtig umgesetzt wird, also wie entschieden gehandelt wird. Um überprüfen zu können, ob gemäß einer Entscheidung gehandelt wird, muss man Kriterien oder Merkmale angeben, deren Einhaltung man feststellen kann. Wenn z.B. entschieden wurde, dass ein Unternehmen nur TV-Werbung und keine Radio-Werbung schaltet, so kann man dies überprüfen. Auch kann überprüft werden, dass man bei Dienstreisen mit der Bahn immer nur 2. Klasse fährt – das steht auf der gekauften Fahrkarte.  Neben so klaren Fällen gibt es ganz viele Entscheidungen, wo die Angabe von Kriterien für Richtigkeit vager wird und es mehr Interpretationsspielraum gibt. Hier werden dann Mechanismen etabliert, wie die Richtigkeit der Einhaltung von Entscheidungen festgestellt (=entschieden!) wird. Der wichtigste Mechanismus dafür ist die Hierarchie (über Vorgesetzte, Abstimmungsverfahren, denen man sich unterwirft, oder auch – im gesellschaftlichen Kontext – die Rechtsprechung).

Ein dritter wichtiger Aspekt in Bezug auf Entscheidungen ist die Frage der Durchsetzbarkeit von Entscheidungen. Es ist eine Sache festzustellen, ob eine Entscheidung richtig umgesetzt wurde oder nicht, eine andere ist es, ob man die Möglichkeiten hat, die Umsetzung einer Entscheidung zu erzwingen. Dies ist die Frage, inwieweit die Umsetzung von Entscheidungen technisierbar ist. Technisierbarkeit bedeutet, dass Entscheidung und Umsetzung fest gekoppelt sind. Die engste Kopplung hat man in der Tat, wenn Entscheidungen in IT-Systeme einprogrammiert sind. Das kennen wir alle: wenn z.B. bei einer Online-Reisebuchung entschieden wurde, dass man eine Email-Adresse angeben muss, so geht es nur dann weiter, wenn man das auch gemacht hat (klar könnte man eine falsche Email eingeben, aber dann funktioniert das mit der notwendigen Bestätigungsemail nicht). Je loser Entscheidungen und Umsetzungen gekoppelt sind, umso weniger kann man die Einhaltung von Entscheidungen sicherstellen. Da sowohl Mitarbeiter:innen als auch die Organisation selbstorganisiert agieren, ist die Durchsetzbarkeit von Entscheidungen immer limitiert.

Entscheidungen spielen in Organisationen eine zentrale Rolle, denn Organisationen sind über den Prozess des Entscheidens definiert. Eine Organisation ist das selbsterzeugte Netz von Entscheidungen, an das sich weitere Entscheidungen anschließen. Es beginnt mit der ersten Entscheidung, der Gründung der Organisation, und dann der Frage, wer Mitglied der Organisation wird. Daraufhin muss dann entschieden werden, was die einzelnen Mitglieder machen und so weiter. Jede Entscheidung schafft ein gewisses (selbsterzeugtes) Maß an Sicherheit, hat aber zur Folge, dass nun anderes unsicher wird und entschieden werden muss. Entscheidungen erfordern und produzieren weitere Entscheidungen. 

Die Funktion von Organisationen ist die Erbringung von sachlichen Leistungen, die die Koordination von vielen Akteuren erfordern und ansonsten schwer oder gar nicht leistbar wären. Und eben diese Koordinationsleistung, die (relativ) verlässlich die Prozesse von Organisationen auf Dauer stellt, wird durch die Entscheidungsprämissen hergestellt.

Über Programme, Kommunikationswege und Personal kann formal entschieden werden

Wir starten mit der Betrachtung der drei Kategorien von Entscheidungsprämissen, die von allen drei Autoren genannt werden.

Programme schränken Entscheidungsmöglichkeiten in der Sache ein. Sie legen inhaltlich fest, was die Leistungen der Organisation (=Produkte oder Services) sind und wie diese erbracht werden. Damit ist in den Programmen das Wissen der Organisation gespeichert. Die Programme lassen sich noch einmal in Zweck- und Konditionalprogramme unterscheiden. Konditionalprogramme sind Wenn-dann-Routinen, sie legen fest, welche Konsequenzen definierte Bedingungen nach sich ziehen. Wenn z.B. ein Kunde ein Konto bei seiner Bank eröffnen möchte, dann sind bestimmte Formulare auszufüllen und Schritte einzuhalten. Konditionalprogramme sind vergangenheits- und inputorientiert, sie sorgen dafür, dass in einer spezifischen Situation immer gleich gehandelt wird. Für sie gilt: was nicht explizit in den Regeln erlaubt wurde, ist verboten. Man muss erkennen, ob bestimmte Konditionalprogramme in einer gegebenen Situation anzuwenden sind, und dann den Anweisungen genau folgen.

Zweck-Programme sind zukunfts- und outputorientiert, sie geben Zwecke vor und lassen die Wahl der Mittel (weitgehend) offen.  Z.B. könnte vorgegeben sein, dass man strategisch nur in Europa Geschäft machen möchte, dass eine Umsatzrendite von 10% angestrebt wird oder dass es vor allem um eine hohe Kundenzufriedenheit geht.  Zur Erreichung von Zwecken bzw. Zielen sind alle Mittel erlaubt, die nicht explizit verboten sind. Zweckprogramme sind offener und lassen / geben mehr Freiräume als Konditionalprogramme. Letztere sind spezifischer, laufen aber immer dann ins Leere, wenn eine Situation auftaucht, für die man (noch) kein Konditionalprogramm entschieden hat.

Über Kommunikationswege wird festgelegt, wann eine Entscheidung als eine Entscheidung der Organisation gilt. Dies ist auch eine konditionale Form einer Entscheidungsprämisse, aber es wird nicht in der Sache entschieden, sondern nur die Form der Entscheidungsfindung konditioniert. Hierzu gehören z.B. Stellenbeschreibungen, die Entscheidungskompetenzen und Verantwortungsbereiche regeln, Freigabegrenzen durch Unterschriftenregelungen oder aber der berühmte Dienstweg als die Festlegung, wer wie und wann in welchen Entscheidungsprozessen eingebunden oder gehört werden muss.

Darüber hinaus ist auch die Wahl des Personals eine Entscheidungsprämisse. Die Entscheidung, wer eingestellt und dann auf eine bestimmte Position / Stelle gesetzt oder Mitglied eines bestimmten Teams wird, hat Einfluss darauf, welche Entscheidungen von dieser Person in ihrer Position / Stelle (in ihrem Team) getroffen werden. Stellenbeschreibungen und Kompetenzbereiche werden eben immer auch von Personen (unterschiedlich) interpretiert und ausgestaltet.

Bei den in der Einführung genannten Beispielen handelt es sich bis auf die letzten beiden um formale Entscheidungsprämissen, im Gegensatz zu informalen Entscheidungsprämissen. Mit dieser Unterscheidung wird die Art der Einführung von Entscheidungsprämissen beleuchtet. Formale Entscheidungsprämissen sind Entscheidungen, bei denen Zeitpunkt und Inhalt der Entscheidung (mit mehr oder weniger hohem Aufwand) nachprüfbar sind und die als Entscheidung der Organisation verkündet worden sind. Es sind die sogenannten offiziellen Entscheidungen. Wenn gefragt wird, wo das steht oder wer das in seiner/ihrer Rolle entschieden hat, dann gibt es darauf eine Antwort. Formale Entscheidungsprämissen zeichnen sich dadurch aus, dass man für ihre Beachtung rechenschaftspflichtig ist bzw. bei Missachtung durch die Organisation sanktioniert werden kann (z.B. durch eine Abmahnung oder die Beendigung der Mitgliedschaft). Und wenn eine formale Sanktionierung erfolgreich vollzogen wird, erkennt man genau daran, dass es sich um eine formale Entscheidungsprämisse gehandelt hat, gegen die verstoßen wurde.

Eben weil bei formalen Entscheidungsprämissen erwartet wird, dass sie formal sanktioniert werden können, müssen sie auch entscheidbar im Sinne der Überprüfbarkeit (siehe auch Kasten oben zu Entscheidungen) sein, d.h., dass ihre “richtige“ Befolgung feststellbar sein muss. Es gibt also Merkmale, anhand derer man überprüfen kann, ob die Entscheidungsprämisse eingehalten und beachtet wurde oder eben nicht. Z.B. kann man überprüfen, dass nur mit zertifizierten Lieferanten gearbeitet wird oder auf dem Investitionsantrag finden sich die Unterschriften von den Stellen, die den Antrag genehmigen müssen. Entscheidungsprämissen, die formal entschieden wurden und deren korrekte Anwendung man überprüfen kann, wollen wir technische Regeln nennen[2]. Nun sind nicht alle technischen Regeln so klar überprüfbar wie die beiden genannten Beispiele, sie können auch in deutlich unbestimmteren Formen auftauchen. Dies gilt vor allem für Zweckprogramme, denn neben sehr konkreten Zielen (Umsatzrendite 10%) gibt es die Zweckprogramme Strategie (z.B. Qualitätsführerschaft), Missionen (z.B. Disney: „To make people happy“) oder Purpose (z.B. Deutsche Bank: „Die Deutsche Bank ist dazu da, um Wirtschaftswachstum und gesellschaftlichen Fortschritt zu ermöglichen“[3]). Sind technische Regeln unbestimmter und damit nicht klar, was genau sie als Entscheidungsrahmen setzen, dann werden sie – wenn sie nicht ignoriert werden (können) – oft durch weitere Regeln konkretisiert oder es spielen sich informale Praktiken (siehe unten) ein, wie die vage technische Regel zu interpretieren ist. Wenn z.B. ausgerufen wird, dass die Organisation ab jetzt agil ist, dann werden vielleicht überprüfbar agile Workshops durchgeführt (Konkretisierung) oder aber es bürgert sich ein, dass alles, was man macht, mit agilen Termini formuliert wird (informale Praxis), so dass es sich so anfühlt, als ob man agil wäre.

Entscheidungsprämissen in Form von Programmen, Kommunikationswege und Personal gibt es auch als informale Variante

Neben den formalen Entscheidungsprämissen, den technischen Regeln, gibt es auch informale Entscheidungsprämissen. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie selbstorganisiert entstehen, eben „einfach so“. Der Ursprung ihrer Gültigkeit kann nicht dingfest gemacht werden kann. Auf die Frage, wo das steht oder wer das in welcher Organisationsrolle entschieden hat, gibt es keine Antwort. Darüber hinaus kann und sollte man informale Entscheidungsprämissen in zwei Subkategorien unterteilen, nämlich in Praktiken und Präferenzmuster (=Kultur).

Praktiken sind informale Entscheidungsprämissen, die – wenn sie einmal in die Welt gekommen sind – prinzipiell formalisierbar und damit auch entscheidbar sind (auch wenn man das keinesfalls immer tun sollte)[4]. Diese Form der entscheidbaren informalen Entscheidungsprämissen gibt es wieder in drei Ausprägungen:

  • Programme: gewachsene Routinen, wie man hier Dinge sachlich macht, ohne dass das formal definiert wurde, z.B.: bei der Schichtübergabe die Nachfolger über Probleme mit der Maschine informieren, bei DHL niemals ein zweites Mal an der Tür klingeln oder bei der Zimmerreinigung im Hotel entgegen der Ausschreibung trotzdem immer alle Handtücher auswechseln.
  • Kommunikationswege: z.B. informelle Netzwerke, auf denen entscheidungsrelevante Informationen fließen; Vorabsprachen, die formalen Gremienentscheiden vorausgehen, ohne dass das jemals explizit gemacht wird und auf die man nicht verzichten darf; der kurze Dienstweg, der sich nicht an die Vorgaben hält und trotzdem zu einer Entscheidung führt, die in der Organisation beachtet wird. 
  • Personen: Es gibt Graubereiche in der Einbindung von Personen, die gar nicht zur Organisation gehören oder aber für Entscheidungen offiziell gar keine Entscheidungskompetenz haben, und trotzdem Entscheidungen maßgeblich beeinflussen. Dafür einige Beispiele: graue Eminenzen, ohne deren Zustimmung de facto nicht entschieden werden kann; mitentscheidende Berater:innen, die außerhalb des erteilten Mandates de facto für Organisationsentscheidungen sorgen; die Lebenspartner:innen von Entscheidungsträger:innen; Freelancer, die außerhalb ihres Kompetenzbereiches eigenständig Entscheidungen treffen, die von der Organisation als Entscheidung der Organisation behandelt werden

Insofern die Einhaltung oder das Verbot von informellen Entscheidungsprämissen überprüft werden können, sind die Entscheidungsprämissen entscheidbar und auch formalisierbar, können also in technische Regeln überführt werden, indem man die informale Praxis offiziell entweder bestätigt oder verbietet.

Die Kultur ist das, was übrigbleibt und nicht mehr entschieden werden kann

Auch wenn man die Überprüfbarkeit von Entscheidungsprämissen sehr vage fasst, so bleibt immer ein Rest von informalen Entscheidungsprämissen, die sich prinzipiell der Überprüfung auf Richtigkeit entziehen und im Sinne der Überprüfbarkeit unentscheidbar sind. Unentscheidbare informelle Entscheidungsprämissen werden (von Niklas Luhmann) als Kultur definiert. Diese nicht zu formalisierenden kulturellen Regeln werden, wenn man sie denn beschreiben möchte, als Werte kommuniziert. Deswegen schreibt Luhmann:

Auf ihre Letztkomponenten reduziert, findet man Organisationskulturen in der Form von Werten, untermalt durch und gestützt auf die Geschichte des Systems.

(Luhmann, 2000)

Kulturelle Regeln kann man als gelebte Werte oder auch Präferenzmuster verstehen und bezeichnen. Z.B. könnte man in einer Bank die informellen Praktiken beobachten, dass gesiezt wird und akademische Titel in der Anrede verwendet werden. Dahinter kann man dann das Präferenzmuster höfliche, distanzierte Korrektheit vermuten. Würde der Vorstand nun entscheiden, dass man sich ab sofort duzt und auf Titel verzichtet, dann könnten zwar diese beiden Praktiken (mehr oder weniger vollständig) öffentlich zurückgedrängt werden, aber das Präferenzmuster der höflichen, distanzierten Korrektheit könnte andere Ausdrucksformen finden, z.B. dass man immer noch und noch mehr darauf achtet, wer wieviel Redezeit hat und wer zuerst sprechen darf. Umgekehrt kann es vorkommen, dass jemand zwar siezt und Titel in der Anrede verwendet, und dieser Person trotzdem unterstellt wird, dass sie unhöflich ist. Die kulturellen Regeln bzw. das Präferenzmuster sind deswegen unentscheidbar, da ihnen, wie Niklas Luhmann schreibt, die „Positivität“ fehlt. Es gelingt nicht, alle Merkmale vollständig zu benennen, anhand derer man sicher die Einhaltung der kulturellen Regeln bzw. des Präferenzmusters feststellen kann. Die unentscheidbare Entscheidungsprämisse Kultur wird vor allem dahingehend angewendet, dass Verstöße (also die abgelehnte Alternative) markiert werden, ohne dass man konkrete Merkmale angegeben könnte, die eine Befolgung der Kultur garantieren würden. Erschwerend kommt hinzu, dass in einem Präferenzmuster verschiedene Werte enthalten sind, die miteinander in konkreten Situationen im Konflikt stehen und es nicht möglich ist, für alle Situationen eindeutig festzulegen, wie die jeweiligen Werte priorisiert und gegeneinander abzuwägen sind. Weil kulturelle Spielregeln nicht über Merkmale abschließend vollständig definiert werden können, können sie auch nicht formal eingeführt werden. Zwar kann ein Management Leitwerte beschließen, es gibt aber wegen der fehlenden Überprüfbarkeit keine Möglichkeit, formal zu sanktionieren. Deswegen muss man dann bei kultureller Nicht-Passung auch auf informelle Sanktionierung (=Mobbing) oder (vorgeschobene) formale Fehler ausweichen. 

Ob Entscheidungsprämissen als entschieden oder unentschieden angesehen werden, hängt von der Zuschreibung ab

Bleibt noch die Unterscheidung von Entscheidungsprämissen in entschieden und unentschieden. Der Vorschlag ist, mit dieser Unterscheidung die Quelle zu differenzieren, der die Entscheidungsprämisse zugeschrieben wird[5]. Eine entschiedene Entscheidung kommt von der Organisation. Eine unentschiedene (=nicht-entschiedene) Entscheidung kommt über die Organisation.

Formale Entscheidungsprämissen sind in diesem Sinne entschieden. Es ist klar, dass eine formale Entscheidung von der Organisation getroffen wurde. Kulturelle Spielregeln sind demnach unentschieden (=nicht-entschieden), denn ihre Entstehung kann die Organisation nicht verhindern und kann sie auch nicht formal sanktionieren, da sie unentscheidbar sind.

Die informalen, entscheidbaren Entscheidungsprämissen können sowohl als entschieden als auch unentschieden angesehen werden, je nachdem, wem sie zugeschrieben werden. Wird erzählt, dass die Organisation oder das Management die informalen Praktiken (heimlich) will und unterstützt, es nur nicht öffentlich machen kann oder will, so wären sie entschieden (z.B. akzeptierte Korruption zur Gewinnung von Aufträgen). Hingegen würden Entscheidungsprämissen, für die man keine Unterstützung von der Organisation erwarten würde, wären sie denn offiziell bekannt, als unentschieden gelten (z.B. Korruption zur persönlichen Bereicherung). Ist eine informale Praxis dem Management bekannt und vom ihm geduldet, so können Gerichte zu dem Urteil kommen, dass diese informale Praxis von der Organisation (=dem Management) entschieden wurde, was entsprechende rechtskräftige Verurteilungen nach sich ziehen kann. Genau um diesen Graubereich ging es z.B. im Abgasskandal von VW. Oft versuchen Organisationen, sich formal abzusichern (z.B. dadurch, dass Mitarbeiter:innen Compliance-Richtlinien unterschreiben müssen), um dann informal darauf einzuwirken, dass Mitarbeiter:innen anders handeln. Wenn es darauf ankommt, werden im Streitfalle die Mitarbeiter:innen zur Verantwortung gezogen.

Die kaum erwähnte fünfte Entscheidungsprämisse: kognitive Routinen

Neben den vier Entscheidungsprämissen Programme, Kommunikationswege, Personal und Kultur nennt Niklas Luhmann noch eine weitere Entscheidungsprämisse, die weder von Fritz B. Simon noch Stefan Kühl besonders thematisiert wird: kognitive Routinen. Kognitive Routinen sind Annahmen der Organisation über die Welt, die als wahr vorausgesetzt werden und denen „Realitätskredit“ (Luhmann, 2000) gewährt wird. Dazu gehören z.B. Vorstellungen darüber, wie der Wettbewerb im Markt eines Unternehmens funktioniert, welche Erwartungen Stakeholder an die Organisation haben oder was man im Allgemeinen von Mitarbeiter:innen erwarten kann. Kognitive Routinen sind fremdreferenziell, sie beziehen sich immer auf die Umwelt der Organisation. Die selbstreferenziellen Entscheidungsprämissen Programme, Kommunikationswege, Personal und Kultur sind immer eingebettet in die kognitiven Routinen, die als Hintergrund stets (stillschweigend) vorausgesetzt werden. Dabei lohnt es sich, die kognitiven Routinen in die Kommunikation einzuführen, insbesondere in Strategieprozessen. Ein verändertes Weltbild kann großen Einfluss darauf haben, welche (formalen) selbstreferenziellen Entscheidungsprämissen sich etablieren.

Resümee

Mit der Unterscheidung von Entscheidungsprämissen in Programme, Kommunikationswege, Personal, Kultur und kognitive Routinen in Kombination mit den Unterscheidungen formal – informal, entscheidbar – unentscheidbar sowie entschieden – unentschieden verfügen wir über einen sehr feinen Begriffsapparat, um den unterschiedlichen Formen von Entscheidungsprämissen auf die Spur zu kommen. Formale Entscheidungsprämissen sind der Hebel, um konkrete Veränderungen anzustoßen. Informale Praktiken sind die Arena, in der eine Organisation die Anpassungsfähigkeit gewinnt, um mit formalen Vorgaben gut arbeiten zu können … oder wo formale Vorgaben unterlaufen werden. Es gilt für Führung und Beratung von Organisationen, ein sehr feines Gespür für diese Praktiken zu gewinnen, abzuwägen, was latent bleiben, was besprochen oder was formalisiert werden sollte. Wer verstanden hat, dass es bei den informalen Praktiken auch immer (implizit) um die Frage geht, wem sie (im Falle von festgestellten Fehlern) zugeschrieben werden, wird aufgeklärter mit ihnen umgehen können. Und letztlich erkennt man mit diesem differenzierten Blick, warum Kultur und kognitiven Routinen so wichtig sind: es sind die Selbstverständlichkeiten, die ungefragt vorausgesetzt werden, die aber einen großen Einfluss darauf haben, wie eine Organisation funktioniert. Die Tatsache, dass beide nicht direkt verändert werden können, macht den Umgang mit ihnen noch herausfordernder.

Für Führung und Beratung liegt die Kunst und das Handwerk darin, eine Idee von den in jeder Organisation einzigartigen Wechselbeziehungen zwischen den Entscheidungsprämissen zu gewinnen und Pfade zu finden, wie Konstellationen und Schwerpunkte zwischen den Prämissen über Zeit verschoben werden können. 

Über diese Frage denken wir weiter nach, und zwar in unserem ersten swf-Denkraum am 8./9. Januar 2024 in Berlin.

Literatur

Kühl, Stefan (2018): Organisationskulturen beeinflussen. Wiesbaden (Springer VS).

Luhmann, N. (2000): Organisation und Entscheidung. Wiesbaden (Springer), 3. Aufl. 2011.

Simon, F. B. (2007): Einführung in die systemische Organisationstheorie. Heidelberg (Carl-Auer), 8. Aufl. 2021.

Simon, F. B. (2018): Formen. Zur Kopplung von Organismus, Psyche und sozialen Systemen (Systemische Horizonte). Heidelberg (Carl-Auer).


[1] Niklas Luhmann weist noch darauf hin, dass eine Entscheidung nur dann eine Prämisse ist, „wenn sie im Entscheidungsprozess tatsächlich als solche benutzt wird, sei es konform, sei es abweichend, sei es kooperativ, sei es sabotierend, sei es schweigend, sei es ‚aktenkundig‘ mit Zustimmung oder Widerspruch“ (Luhmann, 2000). Es ist also nicht notwendig, dass eine Prämisse immer befolgt werden muss, um eine Prämisse zu sein!

[2] Diese Bezeichnung taucht so bei Niklas Luhmann nicht auf, allerdings verwendet E.T. Hall sie im Kontext seiner Kulturdefinition.

[3] https://www.db.com/who-we-are/index, abgerufen am 30. September 2023

[4] Luhmann spricht in Bezug auf Praktiken in »Funktion und Folgen formaler Organisation« von brauchbarer Illegalität, thematisiert sie allerdings nicht besonders in »Organisation und Entscheidung«. Simon erwähnt lediglich informelle Kommunikationswege, aber keine informalen Entscheidungsprämissen in Bezug auf Programme oder Personal. Kühl arbeitet die informalen Praktiken stark heraus, hält sie allerdings sämtlich zwar für entscheidbar, aber unentschieden. Weiterhin sind seine Beispiele für informale Entscheidungsprämissen in Bezug auf Personal eher den Kommunikationswegen zuzuordnen. Keiner der drei Autoren thematisiert den informalen Einfluss von Personen, die gar keine Mitglieder der Organisation sind.

[5] Wobei klar ist, dass alle Entscheidungen immer von der Organisation getroffen wurden. Stefan Kühl verwendet die Unterscheidung entschieden – unentschieden abweichend; er setzt informale Entscheidungsprämissen und unentschiedene Entscheidungsprämissen gleich, verwendet also formal – informal und entschieden – unentschieden synonym.