Mitglieder, Team, Organisation – die Gleichzeitigkeit des Verschiedenen

von Timm Richter

Eine gängige Vorstellung von Teams in Organisationen ist es, dass Organisationsmitglieder in kleinen Organisationseinheiten – Gruppen – so zusammenarbeiten, dass sie ihre unterschiedlichen Kompetenzen einbringen, gemeinsame Ziele verfolgen und genau dadurch zu einem High-Performing Team werden. Dahinter steht meist implizit die Idee, dass es sich bei der Organisationseinheit und der Gruppe/Team um dasselbe System handelt, dessen Grenze durch organisationale Mitgliedschaft in der Organisationseinheit definiert ist. Viel Energie und auch Rhetorik wird darauf verwendet, über gemeinsame, motivierende, nachvollziehbare Ziele diese Einheit zu verstärken. Diversität der Mitglieder wird dabei (zumindest auf Talk-Ebene) gewünscht, wobei man bei der Auswahl der Teammitglieder und der Beobachtung der Gruppenprozesse überprüfen kann, wie weit der Wunsch im operativen Handeln realisiert wird. Aber selbst dann steht immer noch die Idee im Raum, dass die Komplementarität der Teammitglieder auf ein nachvollziehbares, von allen geteiltes Ziel ausgerichtet ist, das der Organisation und den Mitgliedern gleichermaßen dient. Hört sich gut an, aber ist es das auch?

Schaubild 1: Die Kopplung von Teammitgliedern, Team und Organisation

In unserem Kurs »Wirksam führen« beschäftigen wir uns mit der Frage, wie Führungskräfte, u.a. Teamleiter:innen, oder Teammitglieder, die Wahrscheinlichkeit erhöhen können, Teamleistungen zu erzeugen, die über die Summe von Individualleistungen hinausgehen. Ein wesentlicher konzeptioneller Dreh ist es, von Einheit auf Differenz umzustellen. Dadurch kommen die paradoxen Spannungen in den Blick und werden bearbeitbar, die ansonsten bei dem (oft moralisch, mindestens normativen aufgeladenen) Wunsch nach Einheit und Gemeinsamkeit als blinder Fleck dysfunktional werden können.

Umstellung von Einheit zu Differenz

Anstatt von der Einheit Mitglieder, Team (Gruppe) und Organisation(seinheit) auszugehen, wird also angenommen, dass es sich bei den Mitgliedern, dem Team (Gruppe) und der Organisation (inklusive deren Ausdifferenzierung in Organisationseinheiten) um getrennte Systeme handelt, die sich genau wegen ihrer Trennung über Beziehungen koppeln (also paradoxerweise getrennt und verbunden sind). Diese differenztheoretische Konzeption konstruiert die Situation komplexer und kann deswegen die Führungsdilemmata besser erklären, denen sich Teammitglieder und vor allem auch Führungskräfte von Teams ausgesetzt sehen – siehe auch Schaubild 1.

Wir können das an einem Beispiel illustrieren: Mal angenommen, zwei organisationale Gruppen, die bisher an zwei Standorten ähnliche Tätigkeiten im Kundenservice, aber mit unterschiedlichem Fokus ausgeführt haben, werden organisational unter der Teamleitung der zweiten Gruppe zusammengefasst. Die erste Gruppe ist auf effiziente Volumenabwicklung ausgerichtet, die zweite kümmerte sich bisher mehr um individuelle Ausnahmefälle. Die Vorgesetze der Teamleitung erwartet, dass die neue zusammengefasste Gruppe ausschließlich Volumenabwicklung durchführt. Ein erstes Teammeeting dieser neuen, größeren Organisationseinheit könnte als Situation gelesen werden, in der die neuen Mitglieder auf ein einheitliches Teamziel „eingeschworen“ werden, dem alle folgen, insoweit die Teamleitung die Organisationsvorgaben gut begründet und motivierend erklärt, um alle „mitzunehmen“ – eben die Herstellung von Einheit.

Doch als so einfach wird die Teamleitung die Situation wahrscheinlich nicht wahrnehmen. Die Kommunikationen lassen sich besser erklären, wenn man diese Situation des Teammeetings als unterschiedlich mehrfach gerahmt ansieht, sich also unterschiedliche Systeme gleichzeitig vollziehen und die Kommunikation des Teammeetings je nach Systemen zu späteren Zeitpunkten unterschiedlich fortgesetzt wird. Möglicherweise wird ein Beobachter des Teammeetings folgende Spannungen aus den Kommunikationen herauslesen – siehe auch wieder das Schaubild 1:

  • Kopplung Organisation – Team: Die Teamleitung ist bemüht, die Vorgaben ihrer Vorgesetzen als Ziel des Teams zu etablieren. Doch trotz hierarchischer Weisungsbefugnis ist die Teamleitung darauf angewiesen, dass das Team mitmacht – und das ist nicht selbstverständlich! In der Teamsitzung entwickeln sich (situativ) Teamdynamiken, die kaum kontrollierbar sind. Vor allem vor dem Hintergrund, dass sich durch die Zusammenlegung der beiden Organisationseinheiten eine neue Gruppe mit neuem Organisationskontext ergeben hat, in der nicht klar ist, wie das Verhältnis zwischen den einzelnen Mitgliedern sich entwickeln wird. Innerhalb des neuen Teams werden Rollen und Rangfolgen untereinander verhandelt – beeinflusst, aber nicht determiniert durch organisationale Rollen und Historien der einzelnen Teammitglieder. Ob und welche gemeinsamen Ziele in der großen Gruppe entstehen, ist ungewiss – vielleicht sorgt der Zusammenschluss der beiden Gruppen gerade dafür, dass in der ersten Gruppe, die bisher auf Volumenabwicklung ausgerichtet war, der Wunsch aufkommt, stärker individuell zu arbeiten. Und wie soll die Teamleitung gut begründen, dass jetzt Volumengeschäft gemacht werden soll, wo sie doch bisher so glaubhaft in ihrer alten Rolle dargelegt hat, dass die individuelle Bearbeitung von Kundenfällen besonders wichtig ist? In dem Teammeeting wird ausverhandelt, welche organisationale Vorgaben vom Team akzeptiert werden – und die Teamleitung wird wahrscheinlich gleichzeitig in ihren Kommunikationsbeiträgen dadurch beeinflusst werden, dass sie die im Teammeeting erzielten Ergebnisse ihrer Vorgesetzen erklären muss. Die Führungskraft vermittelt die Kopplung von Organisation und Team.
  • Kopplung Team – Teammitglieder: Unabhängig von allen organisationalen Aufträgen wird in diesem ersten Teammeeting mitverhandelt, auf welche Weise die unterschiedlichen Mitglieder ins Spiel kommen. Die einzelnen Teammitglieder haben Bedürfnisse, Hoffnungen oder auch Befürchtungen in Bezug auf die Gruppenzugehörigkeit. Es geht ja nicht nur darum, organisational dazuzugehören (das passiert automatisch durch eine formale Entscheidung), sondern welche Erwartungen jedes Teammitglied individuell erfüllen muss, um auch von der Gruppe akzeptiert und als Gruppen-/Teammitglied anerkannt zu werden. Gerade bei der Zusammenlegung / Neuzusammenstellung von Teams müssen sich die Erwartungen an jedes Teammitglied – wer darf was wem sagen, wer folgt wem, wo gibt es Nähe / Distanz, Gleichheit/Unterschiede, etc. – erst noch ausprägen. Wird in Bezug zur Organisation im ersten Punkt das Außenverhältnis geklärt, geht es im zweiten Punkt um die interne Umwelt des Teams, nämlich die individuellen Mitgliedschaftsverhältnisse. Dabei können vom Team erwartete Beiträge und individuelle Bedürfnisse auseinanderlaufen … und die (Nicht-)Passung von individuellen Möglichkeiten / Kompetenzen zu den organisationalen Vorgaben kann zu Spannungen führen. Die Kopplung von Team und Teammitgliedern setzt sich insbesondere auch dann fort, wenn die Teamleitung nicht mit dabei ist.
  • Kopplung Organisationsmitglieder – Organisation: Als wäre das noch nicht genug, ist die Situation des Teammeetings durch eine Dreiecksbeziehung gerahmt. Denn die einzelnen Personen sind nicht nur Mitglied des Teams, sondern auch der Organisation. Als solche haben sie Erwartungen an eine persönliche Karriere und die Teamleitung (bzw. die Organisation) prozessieren potenziell immer mit, an welcher anderen Stelle eine Teammitglied vielleicht besser eingesetzt wäre und welche Rolle das Teammitglied vor dem Hintergrund der persönlichen Karriere in der Organisation einnehmen soll. Wenn also eine Teamleitung in dem Teammeeting bestimmte Positionen vertritt, die für den Organisationsauftrag förderlich sind, vielleicht auch passend zur aktuellen Teamdynamik, so kann es sein, dass einzelne Teammitglieder danach um ein Einzelgespräch bitten, um zu klären, wie es im neuen Kontext um die im letzten Jahresgespräch versprochene Beförderung steht. Und Verhaltensweisen von Teammitgliedern werden auch besser verständlich vor dem Hintergrund, dass sie sich berechtigterweise auch darüber Gedanken machen, wie sich ihre im Teamkontext gemachten Äußerungen und Handlungen auf ihre persönliche Karriere auswirken – z.B. auch dann, wenn es nach dem Zusammenlegen dieser beiden Gruppen nur noch eine und nicht mehr zwei Stellvertreterpositionen gibt …

Ähnliche Spannungen und komplexe Verhältnisse wie in unserem Beispiel lassen sich überall im Organisationskontext ausmachen. Die Unterscheidung der psychischen Vorgänge jedes Teammitgliedes von ihrem Bild als Mitglied des Teams bzw. Organisation sowie die Trennung der sozialen Systeme Organisation und Gruppe/Team hilft, der komplexen Rahmung von Teamsituation in Organisationen gerecht zu werden. Anstatt zu versuchen, diese (rhetorisch) durch Einheitssemantik zu verdecken, ist der Vorschlag, auch in der Kommunikation mit und in Teams die unterschiedlichen Systeme sichtbar zu machen und anzuerkennen. Damit wird die Möglichkeit gegeben, das zu benennen, was die Beteiligten in aller Regel intuitiv sowieso spüren. Und mit dem Benennen und dem Aushalten der Spannungen eröffnet sich auch die Möglichkeit, kreativ mit ihnen umzugehen. Abschließend lassen sich diese Überlegungen in folgende Anregungen zusammenfassen:

  1. Erkenne und nutze die produktive Kraft der Differenz!
    Ziel ist nicht die Einheit um jeden Preis, sondern das Management der Paradoxien von verschiedenen Systemlogiken. Die Unterscheidung zwischen Organisation, Team und Individuum ist keine zu überwindende Störung, sondern die Grundlage für Kreativität und Innovation. Führe, indem du Differenzen sichtbar machst und produktiv entfaltest, statt sie zu verdecken. 
  2. Beobachte die blinden Flecken deiner eigenen Beobachtung!
    Die Position als Führungskraft ist nur eine von mehreren möglichen Perspektiven darstellt. Jede Beobachtung erzeugt eigene blinde Flecken. Kultiviere daher die Fähigkeit zur Beobachtung zweiter Ordnung – beobachte, wie du und andere beobachten, und halte verschiedene Systemreferenzen gleichzeitig im Blick. 
  3. Entfalte Paradoxien, statt sie zu unterdrücken!
    Wo immer widersprüchliche Anforderungen auftreten, widerstehe (für den Augenblick) dem Impuls zur Auflösung durch Vereinheitlichung und such nach geeigneten Unterscheidungen zu ihrer produktiven Entfaltung. Führung bedeutet nicht, Widersprüche zu beseitigen, sondern sie durch kluge Differenzierung handhabbar zu machen. 
  4. Akzeptiere die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Systemlogiken!
    Organisationale Vorgaben, Teamdynamiken und individuelle Bedürfnisse wirken gleichzeitig und folgen jeweils eigenen Logiken. Statt diese Komplexität zu reduzieren, entwickle die Fähigkeit, zwischen diesen Ebenen zu übersetzen und ihre produktiven Spannungen zu nutzen. 
  5. Praktiziere zeitliche Differenzierung statt starrer Einheitlichkeit!
    Teams und Organisationen benötigen phasenweise mehr Varietät oder mehr Redundanz. Öffne das System zeitweise für mehr Vielfalt und Abweichung, um dann auf Basis der gemachten Erfahrungen wieder stärker auf Integration zu setzen. Führung bedeutet, diese Rhythmen zu erkennen und zu gestalten.