„Willkommen im Land der Paradoxien“- Wie ein börsennotiertes Familienunternehmen ganz eigene Wege geht

von Andre Stuer und Wolfgang Zimmermann

Ein erstklassiger Geist zeichnet sich dadurch aus, dass er in der Lage ist, zwei gegensätzliche Ideen in seinem Kopf auszuhalten und trotzdem noch zu funktionieren.

Scott Fitzgerald

„Das Wort „agil“ verwenden wir eigentlich nicht. Das, was wir machen, muss jenseits der Begriffe zu unserer Kultur passen.“ Das war einer der ersten Sätze in unseren Interviews im Rahmen des Forschungsprojekts „New Organizing“ von Simon, Weber & Friends. Wir waren bei der Sixt SE mit Sitz in Pullach bei München, einem der international führenden Anbieter von Mobilitätsdienstleistungen und in rund 110 Ländern präsent. Unsere forscherische Neugierde war geweckt. Wir führten eine Reihe von Interviews im Bereich Sixt Tec mit circa 500 Mitarbeitern. Willkommen auf unserer Reiseroute durch das Gebiet „New Organizing“, willkommen auch zu einem kleinen Abstecher ins Land der Paradoxien.

New Organizing – Empirie trifft Theorie

Was passiert, wenn größere Unternehmen Konzepte der Organisationsgestaltung einführen, die gerade im Trend liegen? – Mit Blick auf den Abschluss unseres gleichnamigen Forschungs- und Buchprojekts laden wir ein zu einer Expedition in die Welt des „New Organizing“. Wie auch im Herausgeberband werden die Beitragsautor:innen regelmäßig  – bis zur Veröffentlichung im Oktober – Einblicke in die Innenwelt von Konzernen und größeren Organisationseinheiten geben, die sich mit der Einführung neuer, „agiler“ Methoden bis hin zu neuen Organisationsformen befassen. Ergänzend werden Theorie- und Forschungshintergründe präsentiert und vor allem Ausblicke gegeben, worauf Führung und Beratung zukünftig zu achten haben, wenn sie neue Organisationsansätze parallel zu vorhandenen Konzernstrukturen wirksam einführen möchten.

Mit uns, aber in anderen Großorganisationen im Gesamtprojekt, waren 40 weitere Forschende. Im Unterschied zu den meisten anderen Organisationen hatten wir es mit einer Großorganisation zu tun, die von einer Unternehmerfamilie geführt wird. Ein Unterschied, der einen Unterschied macht, wie wir in den Interviews bald feststellten. 

Oft ist in Großorganisationen eine Diskrepanz zwischen der Schauseite der Organisation und dem Blick hinter die Kulissen feststellbar. Das war bei Sixt nicht die Leitunterscheidung in unsere Interviews. Hier war es der Umgang mit Paradoxien und Widersprüchen. 

Wir möchten hier aus dem umfangreichen Material einen zentralen Aspekt herausgreifen, der in vielen Transformationen als zentrale Paradoxie auftritt:

Der Steuerungsprozess: Top-Down versus Bottom-Up 

  • Auf der einen Seite: Sixt ist eine börsennotierte SE mit entsprechenden Pflichten, Verantwortlichkeiten und einer Hierarchie (Top-Down). Dazu hat Sixt klare Strukturen (Formalität). 
  • Auf der anderen Seite: Sixt ist ein Familienunternehmen, in dem Mitarbeiter hohe Freiräume zur Gestaltung haben und auch wahrnehmen (Bottom-Up). Dazu lässt Sixt in hohem Maße emergente Strukturen zu (Informalität). 

NEW ORGANIZING – EMPIRIE TRIFFT THEORIE – DIE EMPIRIE

Was hat sich nun in den Interviews, die wir mit einem Querschnitt der Organisation geführt haben, gezeigt? Wie geht Sixt mit dieser Paradoxie um? 

Hierzu einige Statements aus den Interviews: 

  • „Neue Ideen, häufig auch von Erich Sixt, werden in unserer Kultur aufgenommen – durchaus aber auch diskutiert.“ 
  • „Unser Vorstandsvorsitzender Erich Sixt (Stand Sommer 2019) hat die hohe Fähigkeit, lose zu führen, aber in wichtige Dinge extrem tief reinzugehen“.
  • „Wir arbeiten stark nach dem Prinzip: gesunder Menschenverstand plus einfach machen“. 
  • „Fehler können passieren… but this is not the end of the world in Sixt… wir korrigieren dies …habe dies selbst erlebt, dauerte  eine Woche …habe ihn selbst entdeckt und gleich gemeldet …und dann korrigiert.” 

Dieses sich in den Zitaten zeigende Kulturmuster eines aktiven individuellen Paradoxiemanagements war eines der prägenden Muster bei der Sixt SE. Es macht die Protagonisten zu Balance-Künstlern. Hinzu kommt die Bereitschaft der Unternehmer- und Eigentümer-Familie, Risiko zu übernehmen und damit für die Mitarbeiter auch eine Stück Sicherheit zu geben. 

NEW ORGANIZING – EMPIRIE TRIFFT THEORIE – DIE THEORIE

Wie lassen sich diese Beobachtungen mit der Theorie erklären? Welche Spezifika Unternehmerfamilie geführter Unternehmen klingen hier an? Ein kurzer Exkurs dazu (vgl. Zimmermann 2012). 

Unternehmer führen anders als Manager. Die Logik des Managerialen sind Fakten, Pläne und Ziele. Demgegenüber akzeptiert Unternehmertum Widersprüchlichkeiten innerhalb der Organisation und der Gesellschafter. Mal mischt es sich überraschend ein, mal hält es sich vornehm und respektvoll zurück. Es balanciert meist geschickt durch Zeiten des Wachsens wie des Schrumpfens. Es gewinnt Menschen zum Mitmachen und verwandelt vermeintliche Sackgassen in Wanderwege, denen die ganze Mannschaft folgt – es tut das, was man heute gerne „Leadership“ nennt.

Genau diese Form der unternehmerischen Führung, der Balance zwischen den Polen Unternehmertum und Management wurde für uns in den Interviews sichtbar – auf der Ebene der Unternehmerfamilie und auch als Kulturmuster der Gesamtorganisation. Den Faktor Management wird als Wachhund für Effizienz und Ordnung eingesetzt, als der gestalterische Freiraum in Chaos auszuarten droht. Die unternehmerische Führung übergibt ihm jedoch nicht die Alleinherrschaft. 

Eine ihrer großen Stärken ist die Ambiguitätstoleranz, also die Fähigkeit, mit Widersprüchlichkeiten oder Mehrdeutigkeiten umzugehen. Wir haben das Straff-Lockere Führung genannt: Eine vertrauensvolle Balance zwischen straffer Führung und lockerem Experimentieren, die sich auch im spielerischen Umgang mit Spannungsfeldern bis hin in die Werbung ausdrückt. Anstatt in Entweder-Oder-Kategorien zu denken, findet sie häufig eine intelligente Lösung im Sinne von „beides ist möglich“ oder „es geht auch ganz anders“. 

EINLADUNG 

Die Kultur des Paradoxiemanagements erscheint umso lohnender, als widersprüchliche Situationen in einer immer komplexeren Welt zunehmen, auch im Untersuchungsfeld „New Organizing“ – wie eine Reihe von Fallstudien im Buch zeigen. Damit gewinnt auch die Fähigkeit an Bedeutung, balancierend zu führen – anstatt wie Buridans Esel blockiert vor den Alternativen zu stehen. 

Neben dem hier skizzierten Umgang mit der Paradoxie von Top-Down und Bottom-Up in Transformationen zeigt der Fall Sixt Erfolgsfaktoren und Geburtswehen, die ein Unternehmen durchmacht, das sein Geschäftsmodell von der analogen in die digitale Welt verlagert. 

Wir haben schon erwähnt, dass in diesem Unternehmen kaum von Agilität gesprochen wird – man muss diese nicht explizit fordern. 

  • Dies gilt zum einen, weil Teile der entsprechenden Organisations- und Steuerungslogik bereits in der „Sixt-DNA“ verankert sind.
  • Dies gilt zum anderen, weil die Umstellung des Geschäftsmodells die Umstellung der Arbeitsformen geradezu erzwingt. Letztere scheint – zumindest legen die von uns geführten Interviews dies nahe – im untersuchten Unternehmen trotz aller genannten Herausforderungen und Konflikte gut zu funktionieren. 

Mehr zum Fall und Mustern sowie Learnings findet sich in:

Rachwitz, K., Stuer, A., Zimmermann, W.: PS-starke Unternehmensführung – SIXT im Spannungsfeld von Hierarchie und Selbstorganisation,
In: Groth, T., Krejci, G., Günther, St. (2021) (Hrsg.): New Organizing. Wie Großorganisationen Agilität, Holacracy & Co. einführen – und was man daraus lernen kann. Heidelberg: Carl Auer – im Erscheinen, Kap. II.9

Das Buch „New Organizing. Wie Großorganisationen Agilität, Holacracy & Co. einführen – und was man daraus lernen kann“ erschien Anfang Oktober 2021 im Carl-Auer Verlag. Bestellungen sind hier möglich. Am 1. Oktober 2021 fand außerdem unsere Online-Tagung zum Buch statt. Weitere Informationen gibt es hier.

Weitere Literatur:

Zimmermann, Wolfgang (2012) Unternehmer sind Verrückte, Springer Gabler